A+A 2021: Arbeitsschutz mit Exoskeletten
Trotz aller Verbesserungen des Arbeitsumfeldes gibt es sie noch: Tätigkeiten in der Logistikbranche, der Industrie oder dem Handwerk, bei denen regelmäßig schwere Gegenstände mit ergonomisch ungünstigen Bewegungsabläufen gehoben und abgesetzt werden müssen, wo immer wieder über Schulter- und Kopfhöhe gearbeitet werden muss. Und wo andererseits Roboter die Arbeit von Menschen (noch) nicht übernehmen können. Hier haben Exoskelette ihre Einsatzgebiete. Sie entlasten die Anwender. Denn auf Dauer können diese körperlich anspruchsvollen Tätigkeiten krank machen.
Exoskelette sind am Körper getragene äußere Stützen oder Assistenzsysteme. Es gibt sogenannte aktive und passive Modelle. Beide sollen Menschen bei Tätigkeiten mit körperlich anstrengenden Bewegungsabläufen entlasten. Erste Unternehmen wie VW oder Ikea arbeiten bereits mit ihnen, anderen testen sie noch.
Muskuloskelettale Erkrankungen, so der Fachbegriff, sind Erkrankungen, Beschwerden und Verletzungen des Haltungs- und Bewegungsapparats. Sie gehören zu den häufigsten Leiden in Deutschland. Sie verursachen chronische Schmerzen, körperliche Funktionseinschränkungen und den Verlust an Lebensqualität. Schon heute sorgen sie damit für hohe Fehlzeiten. Laut RKI treten diese Erkrankungen zunehmend im Alter auf. Berücksichtigt man den demographischen Wandel, so ist davon auszugehen, dass sich die Zahl der Betroffenen drastisch erhöhen wird.
„Power-Rucksäcke“ für ergonomischeres Arbeiten
Exoskelette sollen dazu beitragen, muskuloskelettalen Erkrankungen vorzubeugen. Aus diesem Grund haben größere Unternehmen, aber auch kleinere Betriebe diese „Außenskelette“ bereits angeschafft – sie können gekauft oder geleast werden. Andere sind dabei, sie als Hilfsmittel zu testen. Arbeitgeber erhoffen dadurch weniger Fehl- und Ausfallzeiten sowie eine höhere Produktivität bedingt durch geringere Ermüdung im Schichtverlauf. Denn diese „Power-Rucksäcke“ – sie lassen sich wie ein Rucksack aufsetzen und vor dem Körper schließen sowie verschiedenen Körperlängen und -umfängen anpassen – können nach einer gut geplanten und teils vom Anbieter betreuten Einführungsphase für besseres Arbeiten und geringere Verletzungsanfälligkeit sorgen. Zusätzlich kann die Fürsorge des Arbeitgebers sich positiv auf die Motivation des Personals auswirken.
Sogenannte passive Exoskelette funktionieren mechanisch. Sie können bei dynamischen und statischen Arbeiten in vorgebeugter Körperhaltung eingesetzt werden, um die Belastung zu reduzieren. Sie eignen sich je nach Ausführung für Tätigkeiten über Schulter- und Kopfhöhe sowie Lastenhandhabungen. Anbieter sind beispielsweise Ottobock, Laevo, Auxivo oder Hunic. Die Wirksamkeit der Power-Rucksäcke wurde in Tests von den Trägern bestätigt. Sie wurden als entlastend empfunden, auch wenn das unterstützte Arbeiten und die Umverteilung der Kräfte vom Rücken auf Hüfte und Beine einer gewissen Gewöhnungsphase bedürfen.
Exoskelette als Ultima Ratio
Um sein Lagerpersonal bei schweren Arbeiten mit Hebe- und Drehbewegungen zu entlasten, hat das Logistikunternehmen DB Schenker mehrere Modelle (Laevo, Ottobock Paexo Back und Paexo Soft Back, Auxivo, Hunic, German Bionic Cray X u.a.) an unterschiedlichen Standorten in Deutschland, Polen, der Schweiz und Schweden getestet. Es handelt sich hierbei um Tätigkeiten in der Seefracht (Entladen von Containern), der Luftfracht, dem Landverkehr sowie in der Kontraktlogistik (Verpacken von Teilen, Pakethandling und Kommissionierung). Die Exoskelette, die die Kraft der Maschine mit der Bewegungskompetenz des Menschen kombinieren, sollen das Personal in diesen Bereichen präventiv unterstützen und vor allem Lendenwirbel und Rückenmuskulatur schonen. „Wir sehen das als Ultima Ratio“, sagt Gerald Müller, Leiter Industrial Engineering bei DB Schenker in Deutschland. „Im Vordergrund stehen für uns zunächst die effiziente Gestaltung von Arbeitsplätzen. Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten wie die Automatisierung von Prozessen, technische Hilfsmittel oder arbeitsorganisatorische Maßnahmen. Wenn diese Maßnahmen aus technischer oder wirtschaftlicher Sicht nicht sinnvoll sind, kann der Einsatz von Exoskeletten ein Lösungsansatz sein.“ Hierbei kommt es besonders auf die Akzeptanz der Mitarbeitenden an.
Akzeptanz wichtiger als Produkt
Bei DB Schenker sind passive und aktive Stützkonstruktionen getestet worden. „Am Anfang muss sehr viel erklärt und testbegleitend gecoacht werden. Die Einführung ist nicht immer einfach, man muss die Leute von dieser neuartigen Lösung überzeugen“, so die Erfahrung von Gerald Müller. Schließlich sei ein Exoskelett ein sehr technisches Gerät. Nicht jeder Mensch kann sich sofort damit anfreunden, mit einem Stützgerät oder gar Roboter auf dem Rücken zu arbeiten.
Dass die Akzeptanz ein wichtiger Punkt ist, bestätigt auch Dr. Sönke Rössing, Leiter von Ottobock Bionic Exoskeletons. „Wir entwickeln die Produkte grundsätzlich in enger Zusammenarbeit mit den Kunden. Dafür werden die Arbeitsplätze und Tätigkeitsabläufe genau analysiert. Die Nutzer sollen sich in der Bewegung so fühlen, als würden sie ohne äußere Hilfe arbeiten,“ sagt er. „Unsere Ergonomie-Experten unterstützen bei der Einführung und Auswertung.“ Das Exoskelett Paexo Back hat eine biomechanische Wirkweise. Die Last wird wie bei einem Rucksack an der Schulter abgenommen und mit Hilfe der Stützstruktur in die Oberschenkel umgeleitet. Der Energiespeicher nimmt beim Beugen Kraft auf und gibt sie beim Heben wieder ab. Das führt zu einer Entlastung des unteren Rückens von bis zu 25 Kilogramm. Große Firmen wie VW, Airbus, Daimler, SNCF und Toyota in den USA, aber auch kleine und mittelständische Unternehmen wie der Fertighaushersteller FingerHaus arbeiten bereits mit Paexo.
Vernetzte Exoskelett-Plattform, integrierbar in IOT-Umgebungen und Smart Factories
Ähnlich sieht das Dr. Peter Heiligensetzer, Gründer und CTO bei German Bionic. Das junge Unternehmen ist auf „Smart Exoskeletons“ spezialisiert. Auch hier ist die Einführung ein wesentlicher Faktor. „Cray X ist das erste und einzige intelligente Exoskelett am Markt“, sagt Heiligensetzer. Es übernimmt Software-gesteuert bis zu 60% der Muskelaktivität, den Großteil beim Aufrichten. Denn da führt der intelligente Kraftanzug Energie zu und unterstützt so aktiv. Die Belastung wird dabei vom Rücken auf Hüfte und Beine umgeleitet. Das schont den Rücken und verbraucht weniger Sauerstoff, die Arbeit wird insgesamt als weniger ermüdend wahrgenommen. Der Stuttgarter Flughafen und Ikea haben ihre Mitarbeiter bereits mit Cray X ausgestattet.
Das intelligente Roboter-Exoskelett von German Bionic kann sich nahtlos in jedes IOT-Umfeld und jede Smart Factory fügen. Es kann Daten sammeln und auslesen, es kann ferngewartet werden und lernt über künstliche Intelligenz kontinuierlich dazu. So kann es den Prozessen und über Bewegungs- und Gewichtsdaten den Trägern individuell angepasst werden. Updates lassen sich wie beim Handy über Nacht aufspielen. Cray X kann dem Träger signalisieren, dass er zu schwer hebt oder dass er eine Pause machen sollte.
DB Schenker: Praxistests als Grundlage für die Beschaffung
Die Ergebnisse der Praxistests bei DB Schenker fielen insgesamt positiv aus. Lediglich beim Tragekomfort wurden sowohl bei den aktiven als auch bei den passiven Exoskeletten der ersten Testreihe Verbesserungspotenzial gesehen. „Bei den industriellen Exoskeletten handelt sich ja um ein junges Gebiet. Wir arbeiten hier sehr eng mit den Anbietern zusammen. Unser Feedback ist direkt in die Nachfolge-Modelle eingeflossen. Die konnten wir auch schon ausprobieren“, sagt Gerald Müller. Das aktive Cray X Exoskelett hat die Muskelaktivität trotz seines höheren Gewichts von 7 kg teilweise bis zu knapp 50 % reduziert. Die Paexo-Modelle von Ottobock in der Testreihe 2 schnitten ebenfalls überzeugend ab. Besonders leicht mit ca. einem Kilo sind die textilen Exoskelette von Auxivo und Hunic: „Sie sind besonders für Anwendungsfälle geeignet, bei denen es einer hohen körperlichen Flexibilität bedarf“, sagt Gerald Müller.
Nicht jedes Exoskelett eignet sich für jede Tätigkeit. Entscheidende Kriterien bei der Auswahl sind die Platzverhältnisse, das Gewicht, der Bewegungsradius am Arbeitsplatz sowie die Flexibilität in Bezug auf das Fahren von Flurfördertechnik. Letztlich haben alle getesteten Modelle in unterschiedlichen Anwendungsfeldern überzeugt. Die Erfahrungen aus den Tests hat DB Schenker in einer Art Entscheidungsmatrix zusammengefasst. Sie soll als Entscheidungsgrundlage für die Standorte bei der Beschaffung von Exoskeletten dienen.
Exoskelette in Aktion auf der A+A 2021
Alles zum Thema Exoskelette gibt es auf der A+A gebündelt in Halle 10. Dort befindet sich der Robotics Park, auf dem sich Hersteller von Exoskeletten zusammen mit dem Fraunhofer IPA präsentieren. Im angrenzenden Selfexperience Space können Besucher die Innovationen selbst erleben und ausprobieren. Zusätzlich stellen im Rahmen des Robotics Park das Fraunhofer IPA und die Universität Stuttgart IFF mit dem "Exoworkathlon" eine Live-Studie vor.
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