Funktionale Sicherheit: Anwendung im Maschinenbau
Eine neue Maschinenverordnung, die NIS2-Richlinie und der Cyber Resilience Act – das sind gegenwärtig nur drei einer ganzen Reihe von gesetzlichen Herausforderungen, die starke Auswirkungen auf die Praxis im Maschinen- und Anlagenbau haben werden. Axel Sandvoß, Referent beim VDMA e. V. Nord, erläutert welche Auswirkungen diese und andere Änderungen auf den Bereich der „Funktionalen Sicherheit“ im Maschinenbau haben und welche Entwicklungstrends es gibt.
GIT SICHERHEIT: Herr Sandvoß, zunächst einmal wäre es interessant zu erfahren, was gegenwärtig die größten Probleme und Herausforderungen für Konstrukteure und Maschinenbauer in Bezug auf die Funktionale Sicherheit sind und warum ein Ingenieur in Zukunft den Satz „Mach ich mal eben“ vermutlich meiden wird.
Axel Sandvoß: Im Grunde geht es bei der Funktionalen Sicherheit um Zugangskon-trolle zu Gefahrenquellen und Abschaltung von gefährlichen Bewegungen bzw. von stromführenden Bauteilen. Diese Aufgabe so erfolgreich wie nötig und dabei so einfach wie möglich zu gestalten ist ein enorm hoher Anspruch. Natürlich ist technisch vieles denkbar und zu realisieren, aber geht die gewählte Lösung am Arbeitsalltag der Bediener vorbei, werden Sicherheitseinrichtungen manipuliert oder gar ganz abgebaut. Es ist also die größte Herausforderung eine Sicherheitsarchitektur zu implementieren, die der Bedienpraxis entgegenkommt und im besten Fall nicht verkompliziert.
Wie sind denn ihre ganz persönlichen Eindrücke aus ihrem beruflichen Alltag? Was sind die häufigsten Problemfälle?
Axel Sandvoß: Keine Maschine ist zu 100 Prozent sicher – zumindest ist mir keine bekannt. Höchstens die Maschine, die erdacht, aber nie gebaut wurde, ist annähernd als völlig sicher anzusehen. Denn selbst eine nicht eingeschaltete Maschine könnte ja noch beim Umfallen jemanden verletzen.
Die Kunst besteht darin, sich auf die wirklichen Gefahren zu konzentrieren, es möglichst einfach zu halten, die Bedienung der Anlage bzw. Maschine aus der Bedienersicht zu sehen und eine hilfreiche und aussagekräftige Dokumentation zu erstellen. Die Hersteller verkennen dabei oft, dass sich die Betriebsanleitung von einem notwendigen Übel zu einem Sicherheitsnetz für die Maschinen- und Anlagenbauer entwickelt hat. Ein Sicherheitsnetz, das manchmal als einziges über die zu händelnden Gefahren am Produkt aufklärt, auf diese aufmerksam macht und den richtigen und möglichst sicheren Umgang mit der Maschine beschreibt und somit ermöglicht. Das geht schon damit los, dass die Warnhinweise an dem Produkt sich oft nicht mit der Betriebsanleitung decken, bzw. nicht richtig und eindeutig beschrieben werden. Da hilft es dann auch nicht, wenn teure Sicherheitstechnik zur Verriegelung, oder zur Zuhaltung, eingesetzt wird, wenn der Bediener an der Anlage nicht für die dahinterstehende Gefahr sensibilisiert ist und die Sicherheitstechnik überbrückt. Tatsächlich muss das Bewusstsein für die vorhandenen Gefahren immer wieder geschärft werden, selbst oder gerade für Mitarbeiter, die tagtäglich mit dem Werkzeug Maschine umgehen müssen.
Themen wie Künstliche Intelligenz oder Mensch-Maschine-Interaktion spielen eine immer größere Rolle. Welche Trends sehen Sie hinsichtlich der Funktionalen Sicherheit in den nächsten Jahren?
Axel Sandvoß: Ergonomie, Kollaboration, Kommunikation und die auszuführenden Prozesse an den Maschinen und Anlagen müssen sich an den Betreibern und deren Mitarbeiter als Bediener ausrichten. Dabei dürfen wir davon ausgehen, dass die Maschinenführer vor Ort immer weniger Qualifikationen von Hause aus mitbringen und immer mehr eingewiesenes Personal, oft ohne Vorkenntnisse, den Umgang mit komplexen Maschinen und Anlagen praktiziert.
Eine starke künstliche Intelligenz, aller “I Robot“ mit Bewusstsein und autonomer Handlungsfähigkeit sehe ich da vorerst nicht. Vielmehr werden noch stark regelbasierte Lösungen, die eine unglaubliche Menge an Daten benötigen und verarbeiten müssen, das Geschehen bestimmen. Dies wird im Service die vorrausschauende Wartung und ähnliche Lebensphasen der Maschinen und Anlagen beflügeln, möchten doch die Kunden einen möglichst späten Wartungsintervall, ohne Angst vor plötzlichem Maschinen-, und damit einhergehenden Produktionsausfall. Textbasierte künstliche Intelligenz wird die Gestaltung der technischen Dokumentation sicher schon bald beeinflussen. Zugleich wird sie aber dem Hersteller nicht die kritische Sicht auf den Anlagenbediener und seine auszuübenden Tätigkeiten ersparen.
Im Vorgespräch zu diesem Interview hatten Sie bereits darauf hingewiesen, dass das Berufsbild des Ingenieurs immer komplexer wird. Zudem haben Sie sich dafür ausgesprochen, dass die eigentliche Ausbildung an den Universitäten und Fachhochschulen eine stärkere Praxisorientierung erhalten sollte. Können Sie das etwas näher ausführen?
Axel Sandvoß: Die Universitäten, Fachhochschulen und ähnliche Bildungseinrichtungen, blenden die praktische Anwendung und Umsetzung der geltenden Richtlinien und Normen, wie z. B. die EU-Maschinenverordnung, zumeist völlig aus. D. h., die angehenden, angeblich berufsbefähigt ausgebildeten Abgänger dieser Fakultäten treffen in der Praxis auf Unternehmen, in denen sie dann erleben dürfen, dass es so etwas wie eine einzuhaltende “Straßenverkehrsordnung“ im Maschinenbau gibt, die nicht ignoriert und auch nicht mit Verträgen umgangen werden kann. Wie ein besonders gut ausgebildeter Fahrschüler, der sein Fahrzeug auch auf zwei Reifen durch einen Engpass steuern kann, lernen die Konstrukteure und Konstrukteurinnen das Konstruieren, und kennen doch keine einzige Verkehrsregel, die es überhaupt erst ermöglicht, am Straßenverkehr des Maschinenbaus teilzunehmen. Die Absolventen sollten wenigstens einmal in Ihrem Studium gehört haben, dass es diese gesetzlichen Vorgaben gibt, und dass diese als Grundlagen dienen, überhaupt ein Produkt erstmalig auf dem Markt bereit stellen zu dürfen. Tatsächlich wäre dies ein gewaltiger Schritt, nicht nur für die funktionale Sicherheit.
Wenn wir jetzt einmal von den Hochschulen und der Ausbildung zu den Anwendern blicken, wie hoch schätzen Sie den Informationsbedarf ein, welche Form der Wissensvermittlung wäre wünschenswert und welche Formate bietet der VDMA?
Axel Sandvoß: Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e. V. ist ja schon längst dabei ein internationaler, aber zumindest ein europäischer Verband für Maschinen- und Anlagenbauer zu werden. Seit einigen Jahren hat sich der Verband ausländischen Herstellern geöffnet und somit gezeigt, dass nichts in Stein gemeißelt ist und vieles denkbar erscheint. In diesem Sinne hoffe ich, dass sich auch die Ausrichtung allein auf die Hersteller von Maschinen und Anlagen immer weiterentwickelt, sowie wie wir dies bereits bei den Softwareherstellern in unserem Mitgliederkreis beobachten können. Die Interaktion von den Herstellern alter Schule mit der digitalen Welt hat schon viel Gutes für den richtigen und sicheren Umgang mit Maschinen und Anlagen erbracht. Diese Entwicklung gilt es voranzutreiben, damit noch viel mehr Sicherheit, Ergonomie, Produktivität und Akzeptanz bei den Anwendern und den Herstellern entsteht.