Revolutioniert Künstliche Intelligenz die Brandmeldetechnik?
Michael Hirsch leitet seit dem 1. Februar als Vice President die Business Unit „Fire“ innerhalb des Bosch-Geschäftsbereichs Building Technologies. Matthias Erler von GIT SICHERHEIT hat sich mit ihm über seine neuen Aufgaben, über „AIoT“ sowie aktuelle und künftige Brandschutz-Innovationen unterhalten.
GIT SICHERHEIT: Herr Hirsch, lassen Sie uns zum Einstieg eine kleine Stippvisite in die Vergangenheit machen: Sie waren vor Ihrem Einstieg bei Bosch im Jahre 2012 als Unternehmensberater tätig. Was haben Sie da genau gemacht – und welche Erfahrungen daraus konnten Sie dann für Bosch fruchtbar machen?
Michael Hirsch: Für meine heutige Aufgabe bei Bosch und unsere Kunden bringe ich aus dieser Zeit ein gutes strategisches und analytisches Verständnis sowie einen internationalen Erfahrungshintergrund aus unterschiedlichen Industrien mit. Dies hilft, die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten zu können.
Bei Bosch waren Sie zuletzt für das Key-Account-Management zuständig...
Michael Hirsch: Richtig. Ich war für große und strategische Kunden unseres Systemintegrator-Geschäfts zuständig. Dabei trug ich Verantwortung in einem ganzheitlichen Sinne: von Planung, Vertrieb bis hin zu Technik und Service. Brandmeldetechnik war hier natürlich auch ein wesentlicher Bestandteil, wobei ich einen tiefen Einblick in die Sicht unserer Kunden gewinnen konnte. Meine neue Aufgabe erweitert sich jetzt um die Verantwortlichkeit für Produkt- und Lösungsentwicklung in diesem Bereich.
Könnten Sie einmal den Stellenwert und die Rolle beschreiben, die Brandmeldetechnik im Portfolio an Sicherheitslösungen von Bosch Building Technologies spielt – neben Videosicherheit, Einbruchmeldesystemen, Zutrittskontrolle und sprachgestützten Evakuierungssystemen?
Michael Hirsch: Die Brandmeldetechnik ist ein ganz wesentlicher Bestandteil des Gesamtportfolios von Bosch Building Technologies. Unser Ziel ist es, Menschenleben und Werte von Unternehmen durch den Einsatz unserer Technologie zu schützen. Dies ist auch ein Kern-Wert des Bosch-Konzerns mit dem Leitmotiv „Technik fürs Leben“. Aber auch innerhalb unseres Geschäftsbereichs haben wir wesentliche Schnittstellen und Anknüpfungspunkte. Zum einen arbeiten wir sehr intensiv mit unserem eigenen Systemintegrator zusammen. Zum anderen können wir intern auf ein sehr breites und tiefgehendes Domänen-Know-how zurückgreifen.
Wie positionieren Sie sich innerhalb des beachtlichen internationalen Wettbewerbs, was Brandschutzlösungen betrifft? Sie haben gerade schon das „Domänenwissen“ angesprochen – könnten Sie einmal erläutern, wie das am Beispiel der Business Unit Fire im Sinne des Kundennutzens zum Tragen kommen kann?
Michael Hirsch: Das Entscheidende ist, dass wir neben sehr innovativen Einzellösungen vor allem auch gewerkeübergreifende Lösungen anbieten. Neben Brandmeldesystemen haben wir bei Bosch Building Technologies eben auch die Domänen der Kommunikationssysteme, also die Sprachalarmierung und -evakuierung – oder die der Einbruchmeldetechnik, Zutrittskontroll- und Videosicherheitssysteme. Das erlaubt einen ganz anderen Tiefgang bei der Kundenlösung, als wenn wir nur in einem Bereich Know-how zu bieten hätten. Wir können im Brandfall die betroffenen Personen schnell und sicher aus dem Gebäude leiten. Darüber hinaus setzen wir Benchmarks in unserer Branche, zum Beispiel mit der AIoT-basierten Video-Branderkennung.
Stichwort AIoT: Mit diesem Begriff bringen Sie bei Bosch das Zusammenspiel zweier Megatrends zum Ausdruck, nämlich von Künstlicher Intelligenz (engl. Artificial Intelligence, AI) und dem Internet der Dinge (engl. Internet of Things, IoT). Beides gehört derzeit zu den großen Wachstumsmärkten weltweit – und laut Bosch-CEO Volkmar Denner bilden sie einen zentralen Baustein der Unternehmensstrategie Ihres Unternehmens. Könnten Sie bitte einmal etwas vertiefen, was das aus der Perspektive von Bosch alles umfasst?
Michael Hirsch: Künstliche Intelligenz, kurz KI, ist für Bosch eine Schlüsseltechnologie. Volkmar Denner hat betont, dass ab 2025 alle Bosch-Produkte über KI verfügen, damit entwickelt oder hergestellt werden sollen. Um dieses Ziel zu erreichen, hat Bosch ein eigenes Kompetenzzentrum eingerichtet, das Bosch Centre for Artificial Intelligence, kurz BCAI. Auch im Bereich Brandschutz, insbesondere bei der Branddetektion, nimmt die Relevanz von AIoT kontinuierlich zu. Hier sehen wir seit Jahren den klaren Trend in Richtung videobasierter Branddetektion, in Ergänzung zu Standard-Branddetektionssystemen. Dank Einsatz von KI erkennen wir schneller, ob ein Feuer entsteht oder nicht. Das funktioniert sehr zuverlässig und vermeidet Falschalarme. Für immer größere Genauigkeit und Geschwindigkeit werden die Algorithmen permanent weiter verbessert. Ein zweites Feld sind die Remote Services. Wir können heute schneller erkennen, wie etwa der Verschmutzungsgrad eines Melders ist, und entsprechend reagieren. Auch hier werden wir uns zunehmend KI zunutze machen und damit immer bessere Vorhersagen zur Planung von Wartung und zur Sicherung der Systemstabilität erhalten.
Lassen Sie uns die videobasierte Branderkennung etwas näher beleuchten – Stichwort Aviotec?
Michael Hirsch: Das ist ein sehr wichtiger Anwendungsfall von AIoT. Hier wurde zunächst mit wissensbasierten Modellen eine Grundlage geschaffen: Flammen und Rauch lassen sich beschreiben – die entsprechenden Merkmale bilden Muster und führten zu einem ersten Modell. Im zweiten Schritt folgte die Ergänzung durch Machine Learning. Selbstlernende Systeme verbessern die Leistungsfähigkeit, insbesondere auch die wichtige Robustheit gegen Falschalarmszenarien. Weiteres Potential birgt das Deep Learning. Da aber KI auch Grenzen hat, ist es für uns wichtig nachzuvollziehen, zu welchen Ergebnissen sie kommt. Es geht ja um Menschenleben und Werte. Deshalb stellt KI auch aktuell eine komplementäre Technik zu normativen Brandmeldeanlagen dar.
Bei welchen Lösungen erwarten Sie besonders ausgeprägtes Wachstum?
Michael Hirsch: Grundsätzlich vermarkten wir unsere Systeme über unser eigenes Errichtergeschäft, aber auch Systemintegratoren und andere Partner. Hier sehen wir sehr gute Wachstumschancen unter anderem durch die neue Produktgeneration Avenar, Remote Services und weitere Innovationen. Sehr wichtig wird sicherlich das Feld der videobasierten Branderkennung sein – in dem die Kunden auch sehr gut den über die normative Brandmeldetechnik hinausgehenden Nutzen erkennen können. Dies ist ja auch von der Jury des GIT SICHERHEIT AWARD 2020 gewürdigt worden, wo wir mit Aviotec den ersten Platz in der Kategorie Brandschutz gewonnen haben. Schnelle und zuverlässige Detektion direkt an der Brandquelle ist für Anwender weltweit einfach sehr wichtig: Nehmen Sie als ein Praxisbeispiel von vielen das eines papierverarbeitenden Betriebs. Die Decken sind hoch und es vergeht viel Zeit, bis Rauch nach oben steigt, um zu konventionellen Brandmeldern zu gelangen – genug, um aus einem kleinen Glutherd ein Feuer entstehen zu lassen. Mit unserer videobasierten Branderkennung erhalten Sie hingegen sofort die Meldung, wenn eine Brandquelle erkannt wird. Das ist ein erheblicher Mehrwert. Ähnliches gilt auch für alle Arten von Lagerhallen – gerade solche, die hochautomatisiert mit wenigen Mitarbeitern arbeiten. Rechenzentren oder auch Tunnel sind weitere Beispiele.
Wichtig sind hier auch die Remote Services via Internetverbindung, die Sie schon ansprachen: Brandmeldesysteme lassen sich damit komplett aus der Ferne warten, richtig?
Michael Hirsch: Das stimmt. Unsere Remote Services bringen einen wesentlichen Nutzen für unsere Kunden. Durch den dezentralen Zugriff kann man schnell und effizient reagieren. Dies umfasst den Fernzugriff auf unsere Systeme für Programmierung und Wartung, das Live-Monitoring der anfallenden Sensordaten, und die Weiterleitung von Alarmen und Störungsmeldungen auf Smart Devices.
Sie haben kürzlich auch eine spezielle App dafür gelauncht...?
Michael Hirsch: Bisher konzentrierten wir uns hauptsächliche auf Effizienz und Geschwindigkeit unserer Systemintegratoren. Mit der neuen App weiten wir den Service deutlich aus, in dem wir ihn auch bis zum Endkunden bringen. Der Betreiber eines Gebäudes kann damit in Echtzeit zugreifen – das ist ein starker Mehrwert für den Kunden.
Herr Hirsch, ein weiteres wesentliches Metathema, das sich auch durch die gesamte Sicherheits- und Gebäudetechnik hindurchzieht, ist die Vernetzung der einzelnen Gewerke. Das setzt sich innerhalb der Brandschutztechnik fort – etwa durch das Zusammendenken von Alarm, Notbeleuchtung und Rauchabzug. Welche besonderen Entwicklungen gibt es hier insbesondere bei Bosch?
Michael Hirsch: In diesem Fall profitieren wir sehr stark davon, dass Bosch Building Technologies verschiedene Domänen unter einem Dach vereint. Unsere Brandmeldesysteme können, neben der Verknüpfung über einfache Schnittstellen, über eine IP-Verbindung mit unseren leistungsfähigen Sprachalarmierungssystemen verbunden werden. Das kombinierte System erfüllt höchste Standards hinsichtlich Qualität, Sicherheit und Funktionalität und bietet zudem überragende Flexibilität sowie Erweiterungsoptionen.
Lassen Sie uns noch über weitere der jüngsten Neuheiten im Brandschutzportfolio von Bosch sprechen – da wäre etwa die Signalgeber-Familie der Avenar-Serie zu nennen?
Michael Hirsch: Anfang des Jahres haben wir mit Avenar all-in-one 4000 einen kombinierten optischen/akustischen Signalgeber nach EN54-23 beziehungsweise EN54-3 auf den Markt gebracht. Dieser verbindet optische und akustische Alarmierung, ermöglicht bis zu 125 Geräte auf einem Ring sowie eine einfache und schnelle Installation. Diese Modularität und damit verbundene Flexibilität ist ein sehr großer Vorteil. Insbesondere in öffentlichen Gebäuden und Hotels wird dieses Produkt eine breite Anwendung finden.
Sind noch andere spannende Innovationen aus Ihrem Hause zu erwarten?
Michael Hirsch: Ein Highlight ist sicherlich die Erweiterung der Anwendungen der videobasierten Branderkennung in Bereichen außerhalb des Gebäudes. Das ist ein absolutes Novum in der Branche. Wir hatten sehr viele Kundenrückmeldungen bekommen, dass es Bedarf gibt, zum Beispiel Außenlagerflächen entsprechend zu überwachen. Aufgrund der Umgebungsbedingungen im Outdoor-Bereich ist dies nicht trivial. Wir müssen hier mit unterschiedlichsten Umweltbedingungen zuverlässig umgehen können, etwa mit Nebel, Schnee und Wind, die es in geschlossenen Gebäuden natürlich nicht gibt. Wie vorhin bereits angedeutet, hilft uns hier die Entwicklung und Anwendung von KI, den entscheidenden Entwicklungsschritt zu tun. Wir werden in naher Zukunft noch weitere spannende Innovationen vorstellen.
Aviotec IP starlight 8000
In bestimmten Umgebungen ist neben Rauchmeldern ein zusätzlicher Schutz sinnvoll. Wenn etwa ein Feuer in einem Raum mit hohen Decken erkannt wird, noch bevor der Rauch den weit oben angebrachten Rauchmelder erreicht, kann schneller reagiert und so wertvolle Zeit gewonnen werden. Ebenso wichtig ist es, Brände und Rauch korrekt von anderen Störungen zu unterscheiden, die Falschalarme auslösen und finanzielle Konsequenzen haben können.
Aviotec IP starlight 8000 ermöglicht es beispielsweise in Anwendungen der Industrie, in Transport und Lagerhaltung oder auch der Energieversorgung, die Detektionszeit besonders kurz zu halten und Falschalarme zu minimieren. Dank schnellerer Erkennung und erhöhtem Situationsbewusstsein werden Rettungsmaßnahmen beschleunigt, Leben geschützt und Schäden gemindert.
Das videobasierte Brandmeldesystem von Bosch arbeitet mit einem speziellen Modell zur physischen Erkennung von Bränden, das Störungen und echte Brände verlässlich unterscheidet. Dank der Kameratechnologie und den intelligenten Softwarealgorithmen von Bosch wird das Videomaterial direkt in der Kamera analysiert. Eine zusätzliche Verarbeitungseinheit ist nicht erforderlich, was Montageaufwand und Kosten senkt.
Aviotec erklärt in 2 Minuten – hier geht’s zum Video: https://bit.ly/3rYiEtS
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