Zur Neuausrichtung des Wirtschaftsschutzes in Deutschland
Putins Überfall auf die Ukraine hat die deutsche Sicherheitspolitik vor eine neue Situation gestellt. In einer Regierungserklärung diagnostizierte Bundeskanzler Olaf Scholz drei Tage nach dem Angriff, am 27. Februar 2022, eine „Zeitenwende“. Er kündigte unter anderem eine Erhöhung der Ausgaben für die Bundeswehr an. In der Folge hatte die Bundesregierung am 14.06.2023 eine neue Nationalen Sicherheitsstrategie veröffentlicht und die Erarbeitung mehrerer daraus abzuleitender Teilstrategien beschlossen. Eine hiervon ist die neue Nationale Wirtschaftsschutzstrategie, deren „Eckpunkte“ am 15.02.2024 vorgestellt wurden. Zu den Folgen und Herausforderungen all dessen befragte GIT SICHERHEIT Dr. Jürgen Harrer vom Center for Intelligence and Security Studies (CISS) an der Universität der Bundeswehr in München.
GIT SICHERHEIT: Herr Dr. Harrer, Ihr gut besuchter Vortrag am 28. Mai auf dem VfS-Kongress trug den Titel „Zeitenwende – Herausforderungen für Wirtschaftsschutz und Corporate Security“. Um welche Herausforderungen geht es Ihnen vor allem?
Jürgen Harrer: In Anlehnung an ein Zitat von Prof. Carlo Masala, unserem Chef hier beim CISS an der Universität der Bundeswehr München, möchte ich es so formulieren: Nachdem die Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten immer gerne auf die Sonnenseiten der Globalisierung geblickt hatte, zwingt uns die aktuelle sicherheitspolitische Weltlage dazu, uns nun auch konsequenter mit den sicherheitsbezogenen Schattenseiten der Globalisierung zu befassen.
Worin bestehen diese Schattenseiten?
Jürgen Harrer: Da geht es um die aktuellen Sicherheitsrisiken und Resilienzrisiken, die beim globalen Wirtschaften zu berücksichtigen sind. Es war schon immer ein Unterschied, ob man Geschäfte in Bayreuth oder in Beirut macht, aber überraschenderweise wird vielen Unternehmern erst jetzt klar, dass man in einigen Regionen nicht ansatzweise so sorglos unterwegs sein kann, wie sie das in der DACH-Region tun.
Für die Wirtschaftslenker bedeutet dies, bei der Bewertung und Gestaltung ihrer Lieferketten ein der jeweiligen Sicherheitslage besser angemessenes Verhältnis zwischen Effizienz zu Resilienz zu finden. Für den Wirtschaftsschutz im Allgemeinen und für die Arbeit der Initiative Wirtschaftsschutz im Besonderen bedeutet dies, dass die bisherige Ausrichtung auf immaterielle Werte bzw. auf die Abwehr von Wirtschaftsspionage und Cyberangriffen nicht mehr ausreicht. Vielmehr muss auch der Schutz von Menschen insbesondere vor Übergriffen, Entführung oder Terror und der Schutz der materiellen Werte u. a. vor Diebstahl und Sabotage explizit berücksichtigt werden. Und das überholte „Verlagerungsnarrativ“ muss aufgegeben werden.
Was meinen Sie mit „Verlagerungsnarrativ“?
Jürgen Harrer: Im „Verlagerungsnarrativ“ geht es um die Behauptung, dass die Welt insgesamt nicht gefährlicher wird, sondern sich die Bedrohungen verlagern – von der physischen Welt in den digitalen Raum. Das klingt zwar gut, hat aber keine empirische Grundlage. Ganz im Gegenteil. Schauen Sie beispielsweise in die Berichte des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung, da können Sie nachvollziehen, wie die Anzahl von gewaltsamen Auseinandersetzungen mit hoher Intensität weltweit in den letzten 30 Jahren zugenommen hat. Für Deutschland informiert uns mittlerweile auch die Polizeiliche Kriminalstatistik über eine Zunahme der Gewalt in der physischen Welt.
... das heißt, es gibt mehr physische Gewalt – und die Cyberstraftaten kommen noch obendrauf...
Jürgen Harrer: Ja genau. Es gibt hier keine Verlagerung, sondern eine gut dokumentierte Zunahme von Sicherheitsrisiken sowohl im Cyberraum, als auch im Realraum sowie einen Anstieg der hybriden Bedrohungen. Es ist daher sehr naheliegend und auch überfällig, den Fokus von Wirtschaftsschutz auszuweiten. Das fordern Wirtschaft und Verbände übrigens schon seit Jahren. Gut nachzulesen ist dies u. a. im Positionspapier zum Wirtschaftsschutz, das vom BDI im Juni 2021 veröffentlicht wurde.
Es gibt ja seit letztem Jahr eine Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesregierung. Welche Rolle spielt sie in diesem Zusammenhang?
Jürgen Harrer: Die Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesregierung wurde nach langen, umfangreichen Vorarbeiten erstellt und am 14. Juni 2023 veröffentlicht. Sie ist in verschiedener Hinsicht innovativ, u.a. wegen des Konzepts der Integrierten Sicherheit. In dem 76-seitigen Dokument ist auch die Ableitung von rund einem Dutzend funktionaler Folgestrategien angekündigt, z.B. für die Themen Rohstoffversorgung, Wasserstoffimport, Klimaanpassung, Weltraumsicherheit, Cybersicherheit - und eben auch für den Wirtschaftsschutz. Somit ist also in der Nationalen Sicherheitsstrategie vorgesehen, dass der bisherige Wirtschaftsschutz vor dem Hintergrund der Zeitenwende bewertet und auf die neuen Bedarfe hin ausgerichtet und weiterentwickelt werden soll.
Aktuell gibt es bereits ein Eckpunktepapier zur Nationalen Wirtschaftsschutzstrategie. Was hat es damit auf sich?
Jürgen Harrer: Das Eckpunktepapier ist quasi ein Vordokument zur Nationalen Wirtschaftsschutzstrategie. Es wurde in 2023 auf Initiative der Parlamentarischen Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter durch das Bundesinnenministerium mit Unterstützung ausgewählter Experten erarbeitet. Am 15. Februar dieses Jahres wurde es dann von der Staatssekretärin im Rahmen einer Wirtschaftsschutz-Konferenz mit ca. 150 hochrangigen Vertretern aus Politik, Sicherheitsbehörden, Verbänden und Wirtschaftsunternehmen in Neubiberg vorgestellt und diskutiert. Das Eckpunktepapier fasst das neue Verständnis von Wirtschaftsschutz auf knapp fünf Seiten zusammen.
Was beinhaltet dieses neue Verständnis von Wirtschaftsschutz?
Jürgen Harrer: Neben dem Allgefahrenansatz und der ressortübergreifenden Koordination möchte ich hier vor allem folgende Aspekte hervorheben: Zunächst einmal versteht sich staatlich organisierter Wirtschaftsschutz als Hilfe zur Selbsthilfe durch Sicherheitsbehörden und Verbände. Dabei liegt der Fokus auf der Stärkung der Resilienz der Wertschöpfungs- und Lieferketten. Es geht um alle sicherheitsbezogenen Herausforderungen für die Gefahrengemeinschaft von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft – unabhängig von der jeweiligen Ressortzuordnung. Wirtschaftsschutz soll künftig überall dort wirksam sein, wo die Wertschöpfungs- und Lieferketten der deutschen Unternehmen dies erfordern. Man kann das Eckpunktepapier übrigens kostenlos auf der Seite des BMI und auf der Seite der Initiative Wirtschaftsschutz herunterladen.
Wie ging es nach der Vorstellung dieses Eckpunktepapiers weiter? Wann können wir mit der Nationalen Wirtschaftsschutzstrategie rechnen?
Jürgen Harrer: Bereits kurz nach der Vorstellung des Eckpunktepapiers begann die weitere Ausarbeitung der Nationalen Wirtschaftsschutzstrategie. Hierzu sind in den vergangenen Monaten verschiedenste Maßnahmen ergriffen worden. Verbände wurden eingebunden und der Unterstützungsbedarf von KMUs im Wirtschaftsschutz wurde im Rahmen eines Präsenzworkshops im BMI erhoben. Dessen Ergebnisse waren dann die Grundlage für eine zusammen mit dem BKA organisierte Online-Befragung zum Unterstützungsbedarf von Großunternehmen.
Dazu kam ein länderübergreifender Erfahrungsaustausch u. a. mit hochrangigen Vertretern von US-amerikanischen Sicherheitsbehörden. Er brachte Ende Mai weitere Ideen und Anregungen.
Derzeit läuft unter Federführung des BMI die Erarbeitung des Strategiedokuments auf Grundlage der gerade genannten Vorarbeiten. Wenn die Fertigstellung wie geplant bis Ende 2024 gelingt, kann die Nationale Wirtschaftsschutzstrategie im ersten Quartal 2025 durch die Bundesregierung vorgestellt werden.
Herr Dr. Harrer, Sie leiten ja den Forschungsbereich Wirtschaftsschutz beim CISS. In welcher Weise ist das CISS an der Weiterentwicklung von „Wirtschaftsschutz made in Germany“ beteiligt?
Jürgen Harrer: 2023 war ich in die Erstellung des Eckpunktepapiers eingebunden, das dann am 15.02.2024 bei uns im Uni-Casino von Frau PStS Schwarzelühr-Sutter vorgestellt wurde. Gemeinsam mit Sicherheitsmanagern von drei Unternehmen moderierten Wirtschaftsschutzexperten des CISS die Gruppenarbeiten beim KMU-Workshop vom 15. März. Bei der Online-Befragung der Global Player erarbeiteten wir gemeinsam mit Vertretern des BMI und Sicherheitsmanagern aus fünf Unternehmen den Fragebogen, führten ab dem 15. April die Befragung gemeinsam mit BKA IZ11-1 durch, werteten die Rückmeldungen aus und erstellten den Ergebnisbericht. Derzeit unterstützen wir gemeinsam mit Anderen das BMI bei der Ausarbeitung des Strategiedokuments. Insofern kann man sagen, das CISS begleitet die Erarbeitung der Nationalen Wirtschaftsschutzstrategie von Anfang an.
Wo sehen Sie für die nächsten Monate den größten Handlungsbedarf?
Jürgen Harrer: Die größten inhaltlichen Handlungsbedarfe sehe ich bei zwei Themen: Zum einen blickt man beim Wirtschaftsschutz bislang überwiegend „vertikal“ in die einzelnen Unternehmen und regt dort u. a. einheitliche Mindeststandards in Bezug auf die Unternehmenssicherheit an. Künftig muss das ergänzt werden um den „horizontalen“ Blick entlang der Wertschöpfungs- und Lieferketten. Da wird es u. a. um die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit aller staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteure gehen. Auch das neue Verständnis von zivil-militärischer Zusammenarbeit dürfte hier ein Thema sein.
Zum anderen steht im BMI und bei den Sicherheitsbehörden die Prüfung und Bewertung der Ergebnisse aus dem KMU-Workshop und der Global-Player-Befragung an. Da wird man dann priorisieren, entscheiden und die Umsetzung der Prio-1 Maßnahmen anstoßen. Ich vermute, dass es dabei neben einer Verstärkung der internationalen Ausrichtung auch um die Frage gehen wird, wie man die Vielzahl der KMUs besser erreichen und an die Initiative Wirtschaftsschutz anbinden kann.
Die größten organisatorischen Handlungsbedarfe erwarte ich im BMI bei den anstehenden ressortübergreifenden Abstimmungen im Strategieprozess. Da könnten vor und nach der Sommerurlaubszeit recht straffe Zeitpläne auf alle Beteiligten zukommen, damit die Nationale Wirtschaftsschutzstrategie noch bis Weihnachten fertiggestellt wird.
Herr Dr. Harrer, vielen Dank für das Gespräch.
Die „Eckpunkte der Nationalen Sicherheitsstrategie“ des Bundesministeriums des Innern und für Heimat zum kostenlosen Download.