Ein Gespräch mit Prof. Dietmar Hosser: Ingenieurmethoden des Brandschutzes
Der „Leitfaden Ingenieurmethoden des Brandschutzes" soll Brandschutzingenieure in die Lage versetzen, den Brandschutz für ein Gebäude besonderer Art und Nutzung risikogerecht und w...
Der „Leitfaden Ingenieurmethoden des Brandschutzes" soll Brandschutzingenieure in die Lage versetzen, den Brandschutz für ein Gebäude besonderer Art und Nutzung risikogerecht und wirtschaftlich auszulegen. Der Leitfaden ist vor kurzem in dritter Auflage erschienen. Dazu befragten wir Prof. Dietmar Hosser, Vorsitzender des vfdb-Referats 4; Institut für Baustoffe, Massivbau und Brandschutz der TU Braunschweig.
GIT SICHERHEIT: Herr Prof. Hosser, die Idee, einen „Leitfaden Ingenieurmethoden des Brandschutzes" zu erstellen, fußt auf der Prämisse, dass die bestehenden Brandschutzvorschriften und -normen allein nicht ausreichen, vor allem wenn es um den Brandschutz für Sonderbauten geht. Können Sie erläutern, warum das so ist?
Dietmar Hosser: Die Bauordnungen der Länder enthalten detaillierte Brandschutzvorschriften für sogenannte Standardgebäude, d.h. Gebäude mit Wohn-, Büro- oder vergleichbarer Nutzung. Auf Sonderbauten sind diese materiellen Vorschriften nur bedingt anwendbar. Deshalb lassen die Bauordnungen Abweichungen zu unter der Voraussetzung, dass die allgemeinen Anforderungen erfüllt, d. h. die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere Leben und Gesundheit und die natürlichen Lebensgrundlagen nicht gefährdet werden. Welche besonderen Maßnahmen oder Erleichterungen im Einzelfall bei solchen Abweichungen notwendig oder zulässig sind, wird in den Bauordnungen nicht näher festgelegt.
Für einige Sonderbauten wie Versammlungs- und Verkaufsstätten, Hochhäuser und Industriebauten hat die Bauministerkonferenz Muster-Verordnungen oder -Richtlinien mit konkreten Brandschutzanforderungen erarbeitet, die sich bei häufiger vorkommenden Ausführungen - sogenannten Standard-Sonderbauten - bewährt haben. Bei modernen Architektur- und Nutzungskonzepten können aber auch diese Anforderungen oft nicht umgesetzt werden, weil beispielsweise filigrane Stahltragwerke statt feuerwiderstandsfähiger Konstruktionen gewünscht und großzügige, transparente Räume statt baulich abgetrennter Brandabschnitte benötigt werden. In diesen Fällen muss im Rahmen eines ganzheitlichen Brandschutzkonzeptes unter Verwendung von Ingenieurmethoden nachgewiesen werden, dass trotz der Abweichungen die Schutzziele des Brandschutzes in vollem Umfang erreicht werden.
Was genau ist unter Ingenieurmethoden zu verstehen?
Dietmar Hosser: Unter diesem Begriff fasst man ganz unterschiedliche ingenieurmäßige Verfahren zusammen, die vereinfacht oder auch sehr detailliert den Brandverlauf, die Brandeinwirkungen in Form von Temperatur, Rauch oder Schadgasen, das Brandverhalten von Bauteilen oder ganzen Tragwerken sowie das Verhalten von Personen bei der Flucht im Brandfall modellhaft beschreiben. Hierzu zählen neben experimentellen Modellen wie dem klassischen Normbrandversuch heute vor allem mathematische Modelle wie analytische Gleichungen, Brandsimulationsmodelle und Personenstrommodelle.
Welche Aspekte der brandschutztechnischen Auslegung von Sonderbauten sind es in erster Linie, die im Sinne eines effizienten Brandschutzes anders behandelt werden müssen als im klassischen Sinne?
Dietmar Hosser: Klassisch ist die Auslegung nach Vorschrift, indem bei der Planung eines Gebäudes die Brandschutzanforderungen der Bauordnung oder der ggf. anzuwendenden Sonderbauverordnung oder -richtlinie wortgetreu umgesetzt werden. Die Bauordnungen der Länder stellen vor allem Anforderungen an bauliche Brandschutzmaßnahmen wie Abschnittsbildung oder Verwendung von Bauteilen und Baustoffen mit geprüfter Brandschutzqualität. In den Sonderbauvorschriften werden auch anlagentechnische Brandschutzmaßnahmen wie Brandmeldeanlagen, Löschanlagen oder Rauch- und Wärmeabzugsanlagen gefordert, um erhöhte Brandrisiken oder reduzierte bauliche Brandschutzmaßnahmen zu kompensieren.
Weicht man von den vorgeschriebenen - und allgemein akzeptierten - Maßnahmen ab, muss im Einzelfall unter Berücksichtigung der vorliegenden Randbedingungen anhand quantitativer Leistungskriterien nachgewiesen werden, dass mit einer gewählten Kombination von Brandschutzmaßnahmen die Schutzziele des Brandschutzes mindestens so zuverlässig wie bei Auslegung nach Vorschrift - und auch möglichst kostengünstig - erreicht werden. Diese Art von Nachweisen bezeichnet man als schutzzielorientierte (oder leistungsorientierte) Auslegung.
Wie ist der Leitfaden aufgebaut?
Dietmar Hosser: Der Leitfaden beschreibt möglichst kompakt die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik verfügbaren und für ihren Anwendungsbereich abgesicherten ingenieurmäßigen Nachweisverfahren für die in der Praxis häufiger auftretenden Brandschutzprobleme und stellt die dafür benötigten Hintergrundinformationen, Eingangsdaten und Bewertungskriterien bereit.
Die Reihenfolge der Kapitel des Leitfadens richtet sich nach der üblichen Vorgehensweise bei Nachweisen im Rahmen einer schutzzielorientierten Auslegung, beginnend mit der Erfassung der individuellen brandschutztechnischen Randbedingungen, der Festlegung von Schutzzielen und zugehörigen Leistungskriterien und der Definition von repräsentativen Brandszenarien und Bemessungsbränden über die Auswahl geeigneter Brandsimulationsmodelle zu den brandschutztechnischen Nachweisen für Bauteile und Tragwerke - ohne oder mit Berücksichtigung anlagentechnischer und abwehrender Brandschutzmaßnahmen - und den Nachweisen für die Personensicherheit und Entfluchtung im Brandfall.
Abschließend wird auf die Sicherheitskonzepte für Nachweise des konstruktiven Brandschutzes und der Personensicherheit im Brandfall eingegangen, um das Sicherheitsniveau einer gegebenen Auslegung ermitteln oder für ein besonderes Risiko modifizieren zu können. Die Anwendung der einzelnen Nachweisschritte wird in einem umfangreichen Anhang am Beispiel einer Versammlungsstätte (Hörsaalgebäude) vorgeführt.
An welchen Personenkreis richtet sich der Leitfaden genau?
Dietmar Hosser: Entsprechend den unterschiedlichen Aufgabenstellungen in der Brandschutzpraxis soll der Leitfaden einerseits einen Brandschutzingenieur als Fachplaner in die Lage versetzen, den Brandschutz für ein Gebäude besonderer Art und Nutzung risikogerecht und wirtschaftlich auszulegen. Der genehmigenden Behörde oder der Brandschutzdienststelle soll er andererseits helfen, eine solche Auslegung mit möglichst geringem Aufwand zu überprüfen oder Brandschutzanforderungen für die Errichtung und Nutzung des Gebäudes so festzulegen, dass die bauordnungsrechtlichen Schutzziele des Brandschutzes zuverlässig erreicht werden.
Herr Prof. Hosser, der Leitfaden ist gerade für die 3. Auflage überarbeitet und ergänzt worden. An welchen Stellen waren Änderungen erforderlich?
Dietmar Hosser: Während die 2. Auflage 2009 des Leitfadens gegenüber der 1. Auflage 2006 vorwiegend redaktionelle Verbesserungen brachte, waren für die 3. Auflage neben zusätzlichen Erläuterungen und Klarstellungen auch inhaltliche Änderungen erforderlich. Beispielsweise wurden die Modelle und Eingangsdaten für die Definition von Bemessungsbränden im Kapitel 4 ergänzt und anhand von Versuchsergebnissen weiter abgesichert. Die Brandschutznachweise für Bauteile und Tragwerke im Kapitel 6 wurden auf die inzwischen bauaufsichtlich eingeführten Eurocodes umgestellt, und es wurden diverse Anwendungshilfen eingefügt.
Außerdem werden Hinweise zu bisher nicht geregelten Aspekten gegeben, z. B. bei den Nachweisen auf Grundlage von Naturbrandmodellen oder bei der Verwendung neuartiger hochfester Baustoffe. Das Sicherheitskonzept für Brandschutznachweise im Kapitel 10, das bisher nur für den konstruktiven Brandschutz formuliert war, wurde sinngemäß auf die Personensicherheit und Entfluchtung im Brandfall übertragen. Schließlich wurde der erwähnte Beispielanhang vollständig überarbeitet. Insgesamt beschreibt der Leitfaden jetzt nach Ansicht der Autoren den aktuellen Stand des Wissens im Brandschutzingenieurwesen und die nach dem Stand der Technik verfügbaren Ingenieurmethoden des Brandschutzes in einer für die praktische Anwendung ausreichend detaillierten und verständlichen Form. Die 3. Auflage sollte daher einige Jahre Bestand haben.
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