Disruptiv aus Überzeugung - Interview mit Carsten Simons über technologische Unabhängigkeit, mutige Weiterentwicklung und die Zukunft der mobilen Videoüberwachung
„Wir trauen uns disruptiv gegen uns selbst zu sein“, sagt Carsten Simons, Geschäftsführer von LivEye. Im Gespräch mit GIT SICHERHEIT gibt er Einblicke in die Gründungsgeschichte des Unternehmens, die technologische Entwicklung hin zu einem Full-Service-Anbieter mit eigener Hardware- und Softwareentwicklung sowie die Einführung des neuen Produkts NSTR. Dabei spricht er über seine Motivation, Sicherheit wieder in Deutschland zu produzieren, über die Herausforderungen bei der Entwicklung intelligenter Gesamtsysteme, über seine Vision für die Zukunft der Sicherheitsbranche und über sein Verständnis von „Disruption“.


GIT SICHERHEIT: Herr Simons, Sie sagen selbst, Sie seien 2016 „in die Sicherheitsbranche gestolpert“. Wie kam es dazu – und was hat Sie damals an dieser Branche fasziniert?
Carsten Simons: Meine Laufbahn begann früh als Unternehmensberater. 2015/16 war ich in mehrere Unternehmensverkäufe im Sicherheitsbereich involviert – unter anderem bei der UTS Sicherheit & Service GmbH, aus der später LivEye hervorging. Eigentlich wollte ich das Unternehmen für jemand anderen kaufen. Am Ende war es eher so, dass das Unternehmen mich „gekauft“ hat. So wurde ich schrittweise vom Berater zum Geschäftsführer. Heute ist LivEye meine Passion. Schon zu Beginn faszinierte mich der Gedanke: Der Gesellschaft mit moderner Sicherheitstechnologie zu dienen und dabei Hightech mit BWL zu verbinden. Das ist heute mein täglicher Antrieb.
LivEye ist heute ein etablierter Anbieter für mobile Videoüberwachung. Wie sahen die ersten Schritte aus und was war die zündende Idee hinter dem „Pay-by-Use“-Modell?
Carsten Simons: Die Gründungsidee war von Anfang an disruptiv: den klassischen Wachmann durch Technologie zu ersetzen. Eine nüchterne, wirtschaftliche Betrachtung zeigte schnell – Technik gewinnt. Gleichzeitig hatten unsere Kunden weder Interesse noch Ressourcen, in Technik oder Betriebskompetenz zu investieren. So entstand unser „Pay-by-Use“-Ansatz: maximale Flexibilität für den Kunden, volle Verantwortung inklusive Leitstelle bei uns – ohne Investitionshürde der Kunden, aber mit sehr hoher Wirksamkeit.
Sie setzen bei Ihren Systemen auf hochwertige Kameratechnik, betonen aber, dass „die Kameras nicht das Problem sind, sondern die Peripherie“. Was genau meinen Sie damit – und wie begegnet LivEye dieser Herausforderung?
Carsten Simons: Die Kamera ist selten das Problem – sie macht oft den kleinsten Teil der Gesamtinvestition aus. Die eigentlichen Kosten und Risiken liegen in der Peripherie: Netzwerkverkabelung, Stromversorgung, Server, Firewalls, sichere Datenanbindung, Datenschutz, Cybersecurity. Noch heute sind tausende Kamerasysteme ungeschützt im Internet erreichbar – offen, ohne Passwort, ohne Sicherheitskonzept. Das ist nicht nur ein technisches Problem, sondern ein massives Haftungsrisiko. Viele Unternehmen scheuen den Betrieb solcher Systeme, weil sie die Komplexität erkennen.
Hier setzt LivEye an: Wir bieten ein vollständiges, sicheres System – von der Planung über Montage bis hin zu Betrieb, Wartung und Leitstelle. Alles aus einer Hand, zertifiziert nach ISO 9001, 14001 und 27001. Der Kunde zahlt eine feste Gebühr – wir tragen Verantwortung, Aufwand und Risiko.
Mit dem neuen Produkt NSTR gehen Sie einen disruptiven Weg – sogar gegen Ihre eigenen Produkte. Was genau ist NSTR, und was war der Hintergrund zu Entwicklung?
Carsten Simons: Der klassische „Video-Turm“ liefert – wie der Name sagt – vor allem Turm und damit Höhe. Aber in vielen Fällen gibt es am Objekt längst Möglichkeiten zur Montage, etwa an Wänden oder Straßenlaternen. 2019 hatte ich die Idee, das System auf Schuhkartongröße zu reduzieren – ohne Abstriche bei der Performance. NSTR enthält weiterhin Kameratechnik, Videoanalyse, Datenverarbeitung & Übertragung, Verschlüsselung, Lautsprecher, Durchsagefunktion und Lichtsignal – alles integriert.
Hinzu kam der Anspruch, endlich auch im Design Maßstäbe zu setzen. Denn: Fast alle CCTV-Produkte sind bis heute funktional – aber optisch keine Visitenkarte.
Mit NSTR gehen wir bewusst den Weg der Selbst-Disruption: Wir machen damit den eigenen Turm ein Stück weit überflüssig – und treten gleichzeitig in Wettbewerb mit der klassischen Festinstallationsbranche. Eine mutige, aber logische Entscheidung. Denn Fortschritt entsteht nicht durch Stillstand, sondern durch den Mut, sich selbst in Frage zu stellen.

Mit einem öffentliche zugänglichen Online-Tool haben Kunden die Möglichkeit ein eigenes CCTV System zu planen und zu konfigurieren
Sie bieten ein kostenloses Planungstool im Internet an, das jeder bedienen kann. Wie wichtig ist Ihnen dieser offene, niedrigschwellige Zugang?
Carsten Simons: Ich bin BWLer – kein Ingenieur. Und ich dachte mir: Wenn ich ein CCTV-System planen kann, dann können das unsere Kunden schon lange. Genau das war die Idee hinter unserem Online-Planungstool. Wir wollten Sicherheitstechnik greifbar machen – einfach, selbsterklärend und ohne technische Barrieren. Der Kunde soll eine erste Planung eigenständig durchführen können. Vielleicht reicht sie schon aus – oder wir steigen später mit unserer Erfahrung tiefer ein.
Wichtig war uns: keine künstliche Komplexität, kein Fachchinesisch. CCTV muss verständlich sein. Wir öffnen hier bewusst die Tür zu einem Profibereich, kommunizieren aber auf Augenhöhe.
Ein zentrales Thema bei LivEye ist die technologische Unabhängigkeit: Sie haben einen eigenen Edge-Computer entwickelt, verzichten komplett auf Komponenten aus China und setzen auf „Made in Germany“. Warum ist Ihnen das wichtig?
Carsten Simons: Früher glaubte ich, dass Welthandel der Schlüssel zu Frieden sei: Menschen arbeiten zusammen, lernen voneinander, besuchen sich. Heute erleben wir geopolitische Spannungen, staatlich geförderten Protektionismus oder sogar offene Feindseligkeit.
Bei LivEye stellen wir deshalb heute fast alles selbst in Deutschland her. Vom Ladegerät über die LED-Steuerung bis hin zum eigenen Edge-Computer mit modernen AI-Chips.
Nur wer seine eigene Technik schafft und versteht, kann sie auch sicher betreiben, weiterentwickeln und optimieren.
Ihre Systeme sind auf eine Lebensdauer von zehn Jahren ausgelegt, sollen wartungsarm und reparaturfähig sein. Wie gelingt Ihnen dieser Spagat zwischen Langlebigkeit, technologischem Fortschritt und Wirtschaftlichkeit?
Carsten Simons: Langlebigkeit ist für uns nicht nur Ziel sondern Pflicht. Unsere Systeme sind so ausgelegt, dass sie über viele Jahre per Software und KI weiterentwickelt werden können. Viele Funktionen, die wir heute bereits hardwareseitig ermöglichen, werden erst nach und nach – durch Kundenanforderungen oder neue Anwendungen – per Software aktiviert. Gleichzeitig ist unsere Hardware modular aufgebaut. Einzelne Baugruppen lassen sich gezielt tauschen oder aufrüsten, ohne das ganze System ersetzen zu müssen.
Welche Leistungsmerkmale zeichnen Ihre Kameras heute aus – und wie offen ist Ihr System für zukünftige KI-Anwendungen?
Carsten Simons: Unsere Kameras verbinden hochwertige Optik, sensible Sensorik und moderne AI-Chips. Ohne AI on Edge ist Videoüberwachung künftig undenkbar. Mit NSTR öffnen wir unser System für KI-Entwickler, die ihre eigenen KI-Anwendungen integrieren möchten. So wird NSTR zum Marketplace für smarte Sicherheitslösungen.
Zum Abschluss: Sie sagen, Sie wollen „Herr der eigenen Systeme sein“ und „Sicherheit wieder in Deutschland produzieren“. Was ist Ihre Vision für die nächsten fünf Jahre – für LivEye, für NSTR und für die Sicherheitsbranche insgesamt?
Carsten Simons: Meine Vision ist es, LivEye vollständig vom Systemintegrator zum Hersteller zu transformieren und das mit dem Anspruch, Klassenbester in Resilienz und Wirtschaftlichkeit zu sein. In vielen Branchen ein Widerspruch, bei uns nicht.
Der Markt ruft förmlich nach souveräner, europäischer Technologie. In Deutschland gibt es kaum noch Hersteller für Videoüberwachung – das ist unsere Chance. Mit NSTR und weiteren eigenen Entwicklungen wollen wir zeigen, dass „Made in Germany“ ein Versprechen für Sicherheit und Verantwortung ist.
