vfdb - Stresstest und Chance

Die Erfahrungen und Konsequenzen aus der Corona-Pandemie für die Gefahrenabwehr zählten zu den aktuellen Schwerpunktthemen bei der 67. Jahresfachtagung der Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes (vfdb), die in diesem Jahr vom 10. bis 12. Mai virtuell stattfand.

Experten aus Wissenschaft und Industrie, von Behörden, Feuerwehren und Rettungsdiensten berichteten in rund 50 Vorträgen und Diskussionen über das aktuelle ­Geschehen und die Konsequenzen. Dazu gehörte auch ein – hier ausschnittsweise ­vorgestelltes – Referat von Constantin Ahrens von der Berliner Feuerwehr.

Die Corona-Pandemie ist ein Stresstest für unsere Gesellschaft. Für die Berliner Feuerwehr ist die 107-tägige Stabslage zu Beginn der Pandemie die längste dokumentierte Stabslage in der Geschichte der Behörde. Die frühzeitig erkannten Defizite an Ressourcen sowie im Informations- und Kommunikationsmanagement veranlassen die Entscheidungsträger der Berliner Feuerwehr dazu, eine Stabsstruktur zu etablieren. Nachfolgend möchte ich sechs aus meiner Sicht besonders wichtige Themenfelder in Bezug auf die Pandemie sowie Erkenntnisse für zukünftige Ereignisse darstellen.

Führungsstruktur
Während der Corona-Lage arbeiten alle Behörden und Einrichtungen des Landes Berlin weiterhin im Rahmen ihrer Regelzuständigkeit und auf Basis eines in der Verfassung von Berlin festgelegten Ressourcenprinzips. Aufgrund eines erhöhten Bedarfs an Koordination und Entscheidungen etablieren einige Behörden eigene Stäbe. Abstimmung und Kommunikation zwischen den verschiedenen Behörden stellen eine besondere Herausforderung dar.

Stabsarbeit benötigt Ziele und Zielvorgaben, an denen sie sich ausrichten kann. In der Anfangsphase fehlt es an klaren Zielvorgaben für den Stab Feuerwehr – bzw. die bestehenden Zielvorgaben konkurrieren. Dies erschwert die Stabsarbeit grundlegend. Folglich wird mit einem Stabszellenmodell versucht, konkurrierende Ziele zeitgleich zu verfolgen, was nicht umfassend gelingt.

Die Pandemielage ist von hoher Komplexität geprägt – daher ist das Informationsmanagement von höchster Priorität. Unter Federführung der Berliner Feuerwehr wird deshalb ein gemeinsames digitales Lagebild entwickelt und anderen Behörden und Institutionen zur eigenen Bewältigung der Lage zur Verfügung gestellt.

Die im Stab Feuerwehr gewählte Hochrechnung zur Lageentwicklung ist deutlich zu hoch angesetzt. Die Bewertung der vorhandenen Informationen wird durch fehlendes Erfahrungswissen erschwert. Im Gegensatz zu den Stabslagen, die Feuerwehren in der Regel bewältigen, gibt es im Rahmen einer Pandemiebewältigung keinerlei Erfahrungswissen, auf das zurückgegriffen werden kann. Ohne dieses Erfahrungswissen ist jedoch eine Arbeit nach dem Modell des recog­nition primed descision making nach Garry Klein nicht möglich. Darüber hinaus führt eine mangelnde Routine in der Stabsarbeit dazu, dass für viele Stabsmitglieder die Komplexität der Lage weiter erhöht wird. Beide Phänomene zusammen lassen das mentale Modell der unterschiedlichen Stabszellen immer weiter voneinander abweichen.

Kommunikation
Zuverlässige, vertrauenswürdige und konstante interne Kommunikation ist entscheidend für das Mitarbeitervertrauen. Ohne Krisenkommunikation ist eine solche Situation nicht beherrschbar. Neben dem unverzichtbaren Informationsfluss bleibt Kommunikation ein mentaler Hygienefaktor, der unbewusst zum Wohlbefinden der Mitarbeitenden beiträgt. Durch die vorherige Etablierung von internen Kommunikationskanälen und die sorgfältige Aufbereitung von Informationen ist Interne Kommunikation ein wichtiger Teil der Bewältigung außergewöhnlicher Krisensituationen.

Handlungsanweisungen der Berliner Notfallrettung
Medizinischen Handlungsanweisungen der Ärztlichen Leitung Rettungsdienst (ÄLRD), sogenannte Standard Operating Procedures (SOP), regeln die Arbeit in der Notfallrettung. Zur Bewältigung der Pandemielage werden insgesamt 15 Sonder-SOP erstellt, sie behandeln beispielsweise den Ablauf von Intensivverlegungen und Intubationen. Aufgrund der dynamischen Lage müssen diese zeitweise täglich aktualisiert werden.

Digitalisierung
Die Pandemie verändert die Arbeits- und Kommunikationsprozesse. Dies erfordert neue und schnell umsetzbare Technikansätze. Zum Schutz der Mitarbeitenden müssen Geschäftsprozesse kontaktlos umgesetzt werden. Dafür muss kurzfristig Kommunikationsinfrastruktur beschafft werden.

Es besteht hierbei ein Spannungsfeld zwischen Datenschutzanforderungen des öffentlichen Dienstes und praktischen Notwendigkeiten. Mit der Ausweitung bestehender Systeme wird schnell eine praktikable Lösung gefunden. Neben Videokonferenzen können auch breitgefächerte Möglichkeiten zum mobilen Arbeiten von zuhause und digitaler Unterricht an der Berliner- Feuerwehr und Rettungsdienst-Akademie ermöglicht werden.

Leitstelle der Berliner Feuerwehr
Die Leitstelle ist eine kritische Infrastruktur der Berliner Feuerwehr. Aufgrund der besonderen Qualifikationen des Leitstellenpersonals und einem Wechselschichtdienstplan können umfangreiche Personalausfälle – wie etwa in einer Pandemie – nicht kompensiert werden. Eine Ansteckung muss daher zwingend vermieden werden.

Veränderungen im Anrufverhalten oder Einsatzgeschehen können als wichtige Indikatoren und als Frühwarnsystem für den Verlauf eines Infektionsgeschehens dienen. Aus diesem Grund wurde am 26.2.2020 ein Pandemieprotokoll innerhalb der standardisierten Notrufabfrage der Berliner Feuerwehr aktiviert. Mit dem generierten Alarmstichwort-Zusatz für Akute Respiratorische Erkrankungen [ARE] sind eine Sensibilisierung der Einsatzkräfte und eine bessere Einsatzsteuerung möglich. Gleichzeitig wird die Auswertung der Einsatzzahlen im Rahmen der Lagedarstellung und Lageprognose erleichtert.

Mangelressourcen
Der wesentliche Schwerpunkt ist die Beschaffung und logistische Verarbeitung von Mangelressourcen. Hierzu zählen beispielsweise Mund-Nasen-Schutz, FFP-Masken, Einweghandschuhe und Desinfektionsmittel. Die angespannte Situation dieser Ressourcen auf dem Weltmarkt erschwert den Beschaffungsprozess und macht zudem eine Neuorganisation der internen Logistik notwendig. Gleichzeitig erhöhen geänderte Hygienevorgaben und Handlungsanweisungen den Bedarf dieser Mangelressourcen.

Geliefertes Material stellt sich teilweise als Fälschungen heraus, ist abgelaufen oder die Dokumentation ist nicht ausreichend. Andere Mangelressourcen können nur noch in Großgebinden beschafft werden. Um sie gebrauchsfertig für den Einsatzdienst bereitstellen zu können, müssen Ausnahmengenehmigungen von Vorschriften erwirkt werden.

Wegen des geringen Bestands an FFP2-Schutzmasken werden Alternativlösungen geprüft. Im Rahmen eines Prüfnormen-Vergleiches werden Masken des Typs KN 95 nach der chinesischen Norm GB 2626-2006 untersucht. Im Ergebnis können auch diese Masken zum Schutz vor dem Coronavirus eingesetzt werden. Das Ergebnis stößt deutschlandweit auf großes Interesse.

Erkenntnisse für die Zukunft
Die Erkenntnisse aus der Pandemie fließen im Land Berlin direkt in die Überarbeitung des Katastrophenschutzgesetzes und der Regelungen über Gemeinsame Einsatzleitungen ein. Beide Dokumente befinden sich derzeit in der Beschlussfassung im politischen Raum. Ein effizientes Stabsmodell ist ein wichtiges Handwerkszeug einer konsistenten Einsatzplanung. Ein Stabsmodell folgt dabei dem Ansatz „one size fits all“ und wird im Einzelfall möglicherweise nur zu 80 Prozent zum Schadensereignis passen – dieser Wert muss für die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr ausreichen.

Gerade an der Schnittstelle zur Notfallmedizin bedarf es der Definition klarer Führungsstrukturen. Die sehr heterogene Landschaft des Gesundheitswesens stößt in einer Pandemie an ihre Grenzen. Um besser auf Pandemien vorbereitet zu sein, ist eine engere Verzahnung des Rettungsdienstes mit anderen Akteuren im Gesundheitswesen, wie den Gesundheitsämtern und der Kassenärztlichen Vereinigung zwingend erforderlich. Auch die Resilienz des Gesundheitswesens muss gestärkt werden.

Logistik & Lagerhaltung sind zwei der entscheidendsten Schwachstellen des Bevölkerungsschutzes in Deutschland. An dieser Stelle sind neue Denkansätze zwingend erforderlich. Die Berliner Feuerwehr wird im Rahmen ihrer Neuausrichtung einen besonderen Schwerpunkt auf dieses Thema legen.

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