Zur aktualisierten Version der ISO 13855 zur Anordnung von Schutzeinrichtungen an Maschinen
Ende 2024 wurde die neue Version der ISO 13855 zur Anordnung von Schutzeinrichtungen an Maschinen veröffentlicht. Die überarbeitete Fassung enthält Änderungen und Ergänzungen, um die Entwicklungen der vergangenen Jahre und den aktuellen Stand der Technik wiederzugeben. Was Anlagenbetreiber zur aktualisierten Norm jetzt wissen müssen, erklärt Markus Erdorf, Senior Safety Consultant bei Leuze.

GIT SICHERHEIT: Herr Erdorf, die ISO 13855 ist seit mehr als einem Jahrzehnt bewährte Referenz für die Auslegung von Schutzeinrichtungen. Warum war die Überarbeitung erforderlich?
Markus Erdorf: 2010, also vor rund 15 Jahren, wurde die zuletzt gültige Version veröffentlicht. Das ist in der industriellen Automatisierung eine lange Zeit, zwischenzeitlich hat sich viel verändert: Wir haben es heute mit flexibleren Produktionssystemen, mehr mobilen Robotern und neuen Bedienkonzepten zu tun. Das konnte die bisherige Norm nur begrenzt abbilden. Auch hat man sich das Arbeitsunfallgeschehen angesehen und daraus normative Konsequenzen abgeleitet. Die ISO 13855:2024 wird aktuellen Technologien besser gerecht, weil sie Herstellern und Anlagenbetreibern präzisere Vorgaben für die Berechnung von Sicherheitsabständen und entsprechend für die Positionierung von Schutzeinrichtungen macht. Zudem werden Themen aufgegriffen, die in der bisherigen Norm gefehlt haben und bisherige Werte angepasst.
Was sind die wichtigsten Neuerungen der ISO 13855:2024?
Markus Erdorf: Die Berechnung des Sicherheitsabstandes, bisher als Mindestabstand bezeichnet, wurde bei der orthogonalen, also rechtwinkligen Annäherung einer Person überarbeitet und erweitert. Damit kann der Sicherheitsabstand präziser bestimmt werden. Konkret wird die Reichweite DDS – bisher bezeichnet als Eindringabstand C – jetzt anhand von drei Kriterien ermittelt: Übergreifen, Durchgreifen und Untergreifen des Schutzfelds. Das Untergreifen DDU ist neu hinzugekommen und das Durchgreifen DDT wurde um eine Formel erweitert. Bei der parallelen Annäherung einer Person hat sich die Berechnung durch die Verwendung von Pauschalwerten vereinfacht. Dafür wird das Übersteigen von parallelen Schutzfeldern durch konkrete Werte zukünftig verhindert. Neu mit aufgenommen wurden auch die Zuschläge Z, die sich beispielsweise durch eine Messungenauigkeit von Sicherheits-Laserscannern oder durch Bremsverschleiß von Fahrzeugen ergeben. Sehr interessant ist auch das Thema „Abstände zu Quittiertastern“ – normativ als SRMCDs bezeichnet, Safety-related Manual Control Devices. Die Abstände sind nun zu berechnen, um eine Montage an einer sicheren Position zu ermöglichen.
In die Zukunft gedacht ist die Einführung des dynamischen Sicherheitsabstandes. Hiermit ist es möglich, etwa bei Roboterbewegungen abhängig von den äußeren Gegebenheiten wie Geschwindigkeit, Bremsweg und Bewegungsrichtung den Sicherheitsabstand dynamisch anzupassen. Es ist somit etwas komplexer geworden, den Sicherheitsabstand zu berechnen. Das bringt einerseits mehr Genauigkeit, andererseits aber auch mehr Verantwortung für die Anwender der Norm.

Welche Auswirkungen hat die aktualisierte Norm für Hersteller von Maschinen?
Markus Erdorf: Für Hersteller von Maschinen gilt die Maschinenrichtlinie, MRL. Diese besagt, dass nur sichere Maschinen in Verkehr gebracht werden dürfen. Um dies einfacher nachweisen zu können gibt es die Normen beziehungsweise harmonisierten Normen. Auch wenn die neue EN ISO 13855 aktuell noch nicht harmonisiert ist, spiegelt sie doch den Stand der Technik wider und sagt damit aus, wie heutzutage Maschinen korrekt abgesichert werden. Somit empfiehlt es sich, die neuen Anforderungen unabhängig von der Harmonisierung sofort anzuwenden, da die MRL auch auf den Stand der Technik referenziert.
Wo machen sich die Änderungen in den Anlagen beispielsweise konkret bemerkbar?
Markus Erdorf: Denken wir einmal an einen Klassiker in industriellen Anlagen: vertikale Sicherheits-Lichtgitter zur Zugangsabsicherung. In der bisherigen Version der Normen waren zweistrahlige Sicherheitslichtgitter nur noch mit einer entsprechenden Begründung in der Risikobeurteilung zulässig. Die Verwendung dieser Geräte ist nun ausgeschlossen, da der Abstand zwischen zwei Strahlen normativ auf maximal 400 Millimeter begrenzt wurde, um ein Durchsteigen zu verhindern. Zusätzlich wurde der Wert gegen ein Unterkriechen des Lichtgitters von 300 auf 200 Millimeter verringert. Der Wert gegen Übersteigen bleibt mit 900 Millimetern unverändert, aber aus dieser Konstellation ergibt sich, dass künftig mindestens dreistrahlige Sicherheitslichtgitter eingesetzt werden müssen. Hierauf müssen Hersteller und Betreiber achten, wenn sie die erforderliche Sicherheitstechnik auswählen – Leuze bietet hier mit seinen Mehrstrahl-Sicherheits-Lichtschranken geeignete Lösungen in bis zu vierstrahliger Ausführung an.
In die Norm aufgenommen wurde das Untergreifen von vertikalen Schutzfeldern. Erhöht dies die Anlagensicherheit?
Markus Erdorf: Definitiv. Das Untergreifen war in der bisherigen Normfassung tatsächlich nicht berücksichtigt, lediglich der Wert von bisher maximal 300 Millimeter des untersten Strahls über Bezugsebene gegen Unterkriechen. Insofern konnte man ein Schutzfeld mit einer Hand oder einem Arm leicht untergreifen. Ab sofort muss die Reichweite für das Untergreifen ermittelt werden, um anschließend beispielsweise den Sicherheitslichtvorhang korrekt zu montieren. Auch der nun verringerte Wert gegen Unterkriechen erhöht die Sicherheit.
Sie hatten auch das Thema Quittiertaster erwähnt, das in der Norm nun umfassend behandelt wird.
Markus Erdorf: Richtig, die ISO 13855:2024 geht jetzt explizit auf sicherheitsbezogene Handsteuergeräte ein – also SRMCDs. Der Begriff ist in der Norm größer gefasst, betrifft aber hauptsächlich die Anbausituation von Quittiertastern. In der Vergangenheit hieß es lediglich „darf aus dem Gefahrbereich heraus nicht erreichbar sein“. Nun ist der Abstand zu einem SRMCD, und damit insbesondere bei Quittiertastern, zu berechnen. Durch die berechneten Werte endet womöglich auch die bisherige Diskussion, ob etwas nicht erreichbar ist.
In der aktuellen Norm wurden zudem Anforderungen an Sicherheitsabstände in Zusammenhang mit Stufen eingeführt. Was steckt da dahinter?
Markus Erdorf: Alle Werte in der Norm zur Berechnung des Sicherheitsabstandes beziehen sich auf eine Bezugsebene. Häufig ist dies der Boden, auf dem die Person steht, muss es aber nicht zwingend sein. Gibt es an einer Maschine Stufen, betretbare Maschinengestelle oder Podeste, führt dies immer wieder zur Frage, welche der beiden Ebenen nun die korrekte Bezugsebene ist. Dies wird nun ausführlich in der Norm anhand von mehreren Beispielen klargestellt. Die Norm unterscheidet dabei zwischen Aufstieg und Abstieg, Stufenhöhe und auch -breite und gibt dann anhand einer Tabelle direkt vor, welche Fläche als Bezugsebene gilt, um Fehleinschätzungen zu vermeiden.
Das sind nur einige der Änderungen, die sich durch die ISO 13855:2024 ergeben. Müssen bestehende Anlagen nun angepasst werden? Oder hat man Bestandsschutz?
Markus Erdorf: An dieser Stelle ist es wichtig, zwischen Hersteller und Betreiber zu unterscheiden. Für den Hersteller gilt entsprechend der Maschinenrichtlinie immer der Zeitpunkt des Inverkehrbringens. Somit sind für den Hersteller Altanlagen nicht relevant, aber alle neu gebauten Maschinen. Und dies gleichermaßen für Sondermaschinen wie auch für Serienmaschinen. Für den Betreiber gilt die Betriebssicherheitsverordnung. Diese fordert, dass eine Gefährdungsbeurteilung regelmäßig zu überprüfen ist. Dabei muss der Stand der Technik berücksichtigt werden und soweit erforderlich, muss man die Sicherheitstechnik anpassen. Die neue Version der Norm ist Stand der Technik und damit auch für Bestandsanlagen relevant. Und wie man hier sieht: Ein pauschaler Bestandsschutz ist gesetzlich ausgeschlossen.
Was können Hersteller und Betreiber tun, um den aktuellen Stand der Technik zu kennen? Können Sie hier unterstützen?
Markus Erdorf: Erfahrungsgemäß ist es schwierig, bei der Vielzahl an Normen und Richtlinien und deren regelmäßiger Überarbeitung immer den aktuellen Stand der Technik zu kennen. Und dann auch noch die Maschinen entsprechend dem Stand der Technik zu bewerten. Deswegen bieten wir eine Vielzahl an Dienstleistungen an, um sowohl Hersteller als auch Betreiber bestmöglich zu unterstützen. Von einfachen Sicherheitsinspektionen und Nachlaufzeitmessungen, der kompletten sicherheitstechnischen Bewertung eines Maschinenparks bis hin zur Umsetzung der Absicherung einer Maschine oder Anlage inklusive Services und Engineering ist alles mit dabei. Zu empfehlen sind auch unsere praxisnahen Online-Seminare, insbesondere zur neuen ISO 13855:2024. Ein weiterer Tipp für Hersteller und Betreiber: die Berechnungs-Tools auf www.leuze.com. Diese sind äußerst praktisch, um die Sicherheitsabstände normgerecht zu ermitteln. Und bei komplexeren Anwendungen beraten die Sensor People von Leuze gerne individuell und unterstützen zusätzlich bei der Auswahl geeigneter Sensorik und Sicherheitslösungen.
