Nicht gegenständliche Sicherheit: Safewards-Modell am Ameos Klinikum
Der Maßregelvollzug in Deutschland hat zwei zentrale Ziele: die Sicherheit der Gesellschaft und die therapeutische Behandlung psychisch kranker Straftäter. Um diese Ziele zu erreichen, wird neben der baulich-technischen gegenständlichen Sicherheit auf nicht gegenständliche Sicherheit (therapeutische, soziale und pädagogische Maßnahmen) gesetzt. Ein modernes, evidenzbasiertes Modell zur Unterstützung der nicht gegenständlichen Sicherheit ist das Safewards-Modell, welches das Ameos Klinikum für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie im schleswig-holsteinischen Neustadt implementiert hat. Ein Gespräch mit den Safewards-Trainern Carsten Jäger, Gerrit Becker und Mike Wohnrade.
GIT SICHERHEIT: Herr Wohnrade, das „Safewards“-Konzept ist entwickelt worden, um besser mit Konflikten auf psychiatrischen Stationen umgehen zu können. Der Begriff setzt sich zusammen aus den Wörtern „Safe“ und „Ward“, also Station. Könnten Sie zum Einstieg kurz etwas zu Hintergrund und Entstehung dieses Konzepts sagen?
Mike Wohnrade: Das Safewards-Modell ist ein Modell zur präventiven Verhütung von Zwang und Gewalt, das ursprünglich von Professor Len Bowers in Großbritannien entwickelt wurde. Im Mittelpunkt des Konzeptes steht die Idee, dass sich potenziell gefährliche Situationen durch Interventionen und eine Optimierung der Kommunikation entschärfen lassen, bevor es zu einer Eskalation kommt. Es handelt sich um ein komplexes Interaktionsmodell mit zehn Einzelinterventionen, die zu einer Verbesserung des Miteinanders und der räumlichen Atmosphäre auf den Stationen beiträgt.
Geben Sie uns ein Beispiel?
Mike Wohnrade: Ein Beispiel für eine Intervention sind die Methoden zur Beruhigung, in denen dem Patienten Alternativen zur Bedarfsmedikation angeboten werden. Oder die Klärung der gegenseitigen Erwartungen, wo zunächst implizite Regeln einer Station erfasst, im Optimalfall reduziert und unter Beteiligung der Patienten durch Erwartungen ersetzt werden. Im Kern des Modells steht also die Teilhabe und Selbstbestimmung der Patienten.
Welche Konflikte und welche sicherheitsrelevanten Vorfälle kommen typischerweise vor?
Carsten Jäger: Im Kontext der Psychiatrie und zwangsweiser Unterbringung kommt es zwangsläufig zu herausfordernden Situationen, die sich unterschiedlich äußern können. Wir erleben Therapieabbrüche, Missbrauch von Lockerungen, Zwangsmaßnahmen und Übergriffe (verbal oder körperlich) unter den Patienten als auch auf die Mitarbeiter. Mit Implementierung des Safewards-Modells und durch unsere hohen Sicherheitsstandards gelingt es uns allerdings, sicherheitsrelevante Vorfälle deutlich zu reduzieren.
Welche Maßnahmen stehen zur Vorbeugung und Lösung von Konflikten grundsätzlich zur Verfügung? Sie unterscheiden ja zunächst einmal zwischen gegenständlichen und nicht gegenständlichen Maßnahmen...?
Mike Wohnrade: Wir streben eine Unterbringung der Patienten in Einzelzimmern an, hierzu realisieren wir gerade einen Neubau mit sechzig Behandlungsplätzen innerhalb des Besonders gesicherten Bereiches unserer Klinik. Unsere Kriseninterventionsstation ist mit modernen, krisensicheren Möbeln speziell für Psychiatrien ausgestattet. Zudem erarbeiten unsere Mitarbeiter aktuell mit der Universität Wuppertal ein Licht- und Farbkonzept für unser Aufnahmehaus.
Neben unseren hohen baulichen Sicherheitsstandards schaffen wir ein therapeutisches Milieu, um eine bestmögliche Behandlung der Untergebrachten in unserer Klinik zu ermöglichen. Durch vielfältige therapeutische Gruppen- und Beschäftigungsangebote bieten wir den Patienten einen Rahmen, um einen prosozialen Umgang mit Konflikten zu erlernen. Die Mitarbeiter in unserer Klinik profitieren hierbei von einem großzügigem Fort- und Weiterbildungsangebot, in dem Deeskalationstechniken, körperliche Interventionen oder der eigene Umgang mit Angst und Gewalt erlernt werden. Darüber hinaus verfügen unsere Stationen über eine Vielzahl an speziell fachweitergebildeten Mitarbeitern, die sich für eine moderne und individuelle Behandlung der Patienten einsetzen. Die größte Sicherheit schaffen wir durch unsere Beziehungsarbeit mit den Patienten, denn dadurch lassen sich konfliktbehaftete Situationen bereits frühzeitig identifizieren und durch Einleitung individueller Maßnahmen gezielt bearbeiten.
An welcher Stelle setzt nun das „Safewards“-Konzept an? Und wie genau hilft es den Mitarbeitern zum Beispiel?
Gerrit Becker: Das Safewards-Modell bietet unseren Stationen mehr Handlungsfreiheit, es wird individueller auf die Behandlung des Patienten eingegangen. Es sorgt für mehr Beteiligung, Transparenz und Selbstbestimmung. Die Patienten werden als gleichwertige Partner akzeptiert.
Wir erleben ein verbessertes Commitment, denn gerade wenn eigene Entwürfe oder Ausarbeitungen auf den Stationen Einzug halten, fördert dies die Identifikation der Mitarbeiter mit der Organisation. Alle Mitarbeiter waren am Implementierungsprozess von Safewards beteiligt. Sie haben Interventionsgruppen geleitet oder sich hierzu eingebracht. Es sorgt für mehr Zufriedenheit, wenn ich Prozesse mitgestalten kann. Auch hat die Einführung des Safewards-Modell dazu geführt, dass sich die Beziehungsgestaltung zwischen Mitarbeiter und Patient kontinuierlich verbessert hat.
Es gibt nach dem Modell ja sechs Ursprungsfaktoren für Konflikte. Lassen Sie uns den Faktor „Räumliche Umgebung“ herausgreifen. Könnten Sie das Modell einmal anhand dieses Faktors durchdeklinieren?
Mike Wohnrade: Die räumliche Umgebung hat sehr großen Einfluss auf die Entstehung von Konflikten. Beispielsweise wirkt sich eine Station mit einem ansprechenden Ambiente positiver auf Patienten aus, als eine Station, die keinen Wert auf Ordnung, Sauberkeit und Milieu legt.
Unser Recovery-Ansatz impliziert, dass unsere Patienten bei der Gestaltung ihrer räumlichen Umgebung mitwirken. So erhalten die Patienten in unserer Klinik die Möglichkeit, sich an der Gestaltung ihrer Zimmer zu beteiligen. In Teilen der Klinik haben sie die Räumlichkeiten der Station selbstständig und nach ihren Wünschen gestrichen. Sie werden beteiligt, wenn es darum geht, Bilder auszusuchen, Pflanzen auf der Station aufzustellen oder sie versorgen selbstständig ein Aquarium. Die Patientenwohnräume sind auf den meisten Stationen so konzipiert, dass die Patienten über eigene Schlüssel zu ihrem Zimmer verfügen, wodurch eine sichere Verwahrung ihrer persönlichen Gegenstände gewährleistet wird.
Welche Rolle kann hier Umsetzung von klassischen sicherheitstechnischen Einrichtungen spielen? Schließlich geht es nicht ohne geschlossene Türen und Überwachung?
Carsten Jäger: Wie sehen unsere professionelle Beziehungsgestaltung als Kernpunkt unserer Arbeit und als größten Sicherheitsgaranten. Denn gelingt es uns, Spannungen zu reduzieren und Konflikte zu entschärfen, verringert sich auch die Gefahr von gewalttätigen Situationen. Wir betrachten die sicherheitstechnischen Einrichtungen als präventive Ergänzung zu unserer Arbeit. Gelingt es uns, eskalierende Situationen zu reduzieren, führt dies im Umkehrschluss zu einer Reduzierung von Überwachungsmaßnahmen.
Es gibt auch sogenannte „reziproke“ Wirkungen – das heißt, der Versuch, einen Konflikt einzudämmen, kann ihn geradezu befeuern... ?
Gerrit Becker: Wir erleben, dass individuell deeskalierende Maßnahmen in der Regel zu einer Verbesserung der Situation führen. Bedingt durch die gelebte Transparenz, das Gefühl der gegenseitigen Wertschätzung und unser stetiges Beziehungsangebot lassen sich die meisten Situationen rasch deeskalieren.
Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Safewards-Konzept gemacht? Was hat sich verändert bzw. soll sich künftig noch verändern?
Carsten Jäger: Wir haben mit der Implementierung des Safewards-Modell durchweg positive Erfahrungen gemacht. So konnten seit der Implementierung Veränderungen im Alltag der Patienten wahrgenommen werden. Durch mehr Beteiligung und Mitbestimmung wird das Commitment erhöht und Partizipation geschaffen. Der Vertrauensvorschuss und das Arbeiten mit Erwartungen anstelle von starren Regeln erleichtert den professionellen Beziehungsaufbau. Die Patienten berichten von einem Gefühl der Wertschätzung. Mitarbeitende beobachten mehr Rücksichtnahme unter den Patienten, dieser Umstand führt zu einem entspannteren Stationsklima.
Im multiprofessionellen Behandlungsteam erhöht die partizipative Gestaltung des Stationssettings die Identifikation mit der Station. Die angewandte sachbezogene Kommunikation der Teammitglieder trägt zur Förderung der Teamentwicklung bei. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Einführung des Safewards-Modells im Ameos-Klinikum für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie eine Steigerung der Behandlungsqualität mit sich bringt. Mit der Einführung werden wir aktuellen Entwicklungen im Bereich der psychiatrischen Versorgung gerecht und kommen somit unserem eigenen Anspruch nach. Die Einführung der Interventionen erfordert vom gesamten multiprofessionellen Team ein Umdenken in der Haltung dem Patienten gegenüber sowie ein hohes Maß an Selbstreflexion, Kritikfähigkeit und Engagement.