Sichere Evakuierung aus Gebäuden planen – per „Crowd-Control“-Software
Forscher und Gebäudetechnikexperten von Siemens arbeiten gemeinsam an Lösungen, um Gebäude sicherer und effektiver evakuieren zu können. Sie haben komplexe Simulationstechnologien ...
Forscher und Gebäudetechnikexperten von Siemens arbeiten gemeinsam an Lösungen, um Gebäude sicherer und effektiver evakuieren zu können. Sie haben komplexe Simulationstechnologien entwickelt, die präventiv erkennen, wo bei einer Gebäudeevakuierung gefährliche Situationen entstehen könnten. Gebäudebetreiber können ihre Immobilien nun von Siemens diesbezüglich analysieren lassen. Mit diesem Wissen kann ein Gebäudebetreiber rechtzeitig Gegenmaßnahmen ergreifen. Mehr noch: Durch die Koppelung an Gebäudeautomatisierungs- und Sicherheitssysteme wird es zukünftig möglich sein, bei Evakuierungen – etwa im Brandfall – steuernd einzugreifen.
Bei Bränden oder anderen Gefahrensituationen müssen Flughäfen, Bahnhöfe, Bürotürme oder große Hotels schnell und sicher evakuiert werden können. Doch wie funktioniert das im Ernstfall? Und wie lassen sich große Liegenschaften systematisch und geordnet so räumen, dass Paniksituationen erst gar nicht entstehen?
Eine Voraussetzung dafür ist, dass die zu erwartenden Bewegungen von Menschenmengen zuverlässig prognostiziert werden – eine komplexe Aufgabe. Siemens entwickelt deshalb eine Simulationssoftware, die die Bewegung von Personenströmen vorausberechnet und Evakuierungsszenarien testet. Wo und wann im Evakuierungsablauf sind kritische Situationen zu erwarten? Das Ziel ist es, diese erst gar nicht entstehen zu lassen sowie die Evakuierungsdauer zu verkürzen.
Zehnmal schneller als in Echtzeit
Voraussetzung für die von Siemens Corporate Technology (CT) entwickelte Simulationssoftware „Crowd Control“ ist eine innovative Berechnungsmethode. Denn wenn jedes Individuum und seine Interaktion mit anderen analysiert würde, würde dies schnell die Rechenkapazitäten von Computern sprengen. Stattdessen setzen die Siemens-Forscher auf ein aggregierendes Verfahren: Räume werden in einzelne Zellen unterteilt, die dem Platzbedarf eines Menschen entsprechen. Das Verhalten leerer und besetzter Zellen wird mittels Kraftfelder definiert. Ausgangspunkte und Zielorte der Personen können eingefügt werden, ebenso Hindernisse wie geparkte Fahrzeuge oder Feuer. Dabei wird Gegenständen eine andere Wirkung zugewiesen als Menschen und das Verhalten Einzelner wiederum anders definiert als das einer Gruppe.
Das Siemens-Modell kann auf diese Weise simulieren, wie sich Mengen von Hunderten, Tausenden oder Zehntausenden von Menschen verhalten – und zwar zehnmal schneller, als sie sich in Echtzeit bewegen. Wird die Crowd-Control-Software mit realen Informationen aus Überwachungskameras gekoppelt, lässt sich die Bewegung von Menschenmassen bis zu fünf Minuten im Voraus prognostizieren. Einsatzkräfte gewinnen so zusätzliche Zeit und können kritische Situationen durch gezielte Interventionen entschärfen.
Crowd Control macht Neubauten sicherer...
Doch nicht nur kurz vor einer möglichen Katastrophe trägt die neue Software dazu bei, Eskalationen zu vermeiden. Sie unterstützt Architekten als Analyse- und Planungstool dabei, Gebäude mit hohem Publikumsverkehr sicherer zu konzipieren.
Die Siemens-Division Building Technologies bietet die Evakuierungssimulation ihren Kunden als umfassende Beratungsdienstleistung an. Der Service beinhaltet das komplette Analysespektrum, angefangen von der Datenerfassung und der Datenaufbereitung über die Generierung von Berichten bis hin zur Interpretation der Ergebnisse.
Basierend auf CAD-Daten des Baukörpers generiert die Software automatisiert ein 3D-Modell. Weitere Elemente wie Sammelpunkte, definierte Wege oder Türen mit einseitiger Begehbarkeit vervollständigen das Datenmodell. Anschließend werden Einzelpersonen und Gruppen so hinzugefügt, wie sie sich typischerweise im Gebäude aufhalten und bewegen, und der Ablauf im Evakuierungsfall wird simuliert. Die Software errechnet und visualisiert in 2D oder 3D die möglichen Fluchtwege sowie das zu erwartende Menschenaufkommen. Dabei wird auch berücksichtigt, dass sich bestimmte Personen entgegen der Fluchtrichtung der Menschenmenge bewegen – beispielsweise Ersthelfer, die zum Brandherd vordringen müssen.
Schon während der Planung eines Gebäudes lassen sich somit die Punkte ermitteln, die gefährliche Situationen begünstigen. Diese Engpässe können dann durch geeignete bauliche Maßnahmen entschärft werden.
…und optimiert Bestandsgebäude und -systeme
Crowd Control kann auch beim Umbau oder bei der Umnutzung von Gebäuden zum Einsatz kommen. Gebäudebetreiber stellen sich oft die Frage: Wie wirken sich anstehende Umbauten oder geplante Veranstaltungen auf das Evakuierungsszenario aus? Hier sorgt der Beratungsservice von Siemens für schnelle Klarheit darüber, ob die bestehenden Räumlichkeiten und Fluchtwege den Anforderungen – die z.B. der Gesetzgeber vorschreibt – genügen. Crowd Control ist darüber hinaus in der Lage, die Auswirkung von Hindernissen auf die Evakuierung zu simulieren. So berücksichtigt das Programm automatisch, welche alternativen Wege genutzt werden, wenn ein Fluchtweg plötzlich versperrt ist.
Ein Beispiel: In einem Bürogebäude ist eines von drei Treppenhäusern vorübergehend gesperrt und kann nicht als Fluchtweg genutzt werden. Die Simulation zeigt, dass die Evakuierung dadurch dreimal länger dauern würde – nicht nur weil der Fluchtweg länger wird, sondern weil die verbleibenden Treppenhäuser für die höhere Anzahl an Menschen kaum ausreichen, was zu Verzögerungen führt.
Mit den Erkenntnissen aus der Simulation lassen sich zudem bestehende Sicherheitssysteme optimieren. Basierend auf den Ergebnissen der Simulationsläufe kann so z.B. eine Sprachalarmierungsanlage unterschiedliche, zuvor definierte Sprachkonserven ausgeben und damit den Gebäudenutzern einen optimierten Fluchtweg weisen.
Virtuelles Training für Ersthelfer
Neben der Einsatzmöglichkeit als Analyse- und Planungstool bietet sich Crowd Control auch als Übungstool an. Sicherheitsbeauftragte, Evakuierungshelfer oder Stockwerksverantwortliche werden zwar für den Umgang mit Notfallsituationen geschult, eine „echte“ Gebäuderäumung ist jedoch immer eine stark belastende Situation, vor allem, wenn Engpässe entstehen oder Treppenhäuser blockiert
sind.
Außerdem gibt es Umgebungen, in denen generell keine Notfalltrainings stattfinden können, weil die Gebäude nie ohne Publikumsverkehr zur Verfügung stehen. Flughafenterminals sind dafür ein Beispiel. Für solche Umgebungen kann Crowd Control für virtuelle Trainings und Trainingsvideos genutzt werden.
In verschiedenen Siemens-Gebäuden in Deutschland wurde die Evakuierungsberatung mit Crowd Control bereits durchgeführt. Der Beratungsservice zur Gebäudeevakuierung der Siemens-Division Building Technologies ist speziell für Unternehmen interessant, die Gebäude mit Hunderten von Mitarbeitern verwalten oder die ihre Immobilien an Dritte vermieten.
Dynamische Evakuierung bei Bränden
Es ist geplant, Crowd Control in Zukunft in die Gebäudeautomatisierungssysteme von Building Technologies zu integrieren. Über eine proaktive Steuerung der Fluchtwege innerhalb eines Gebäudes lässt sich damit der Ablauf von Evakuierungen beeinflussen. Siemens-Fachleute arbeiten derzeit an solchen dynamischen Lösungen zum Brandschutz in Gebäuden – sogenannten Intelligent-Response-Systemen, die dynamisch auf Gefahrensituationen reagieren und die Menschen aus der Gefahr leiten können.
„Bricht Panik aus, ist der nächste Notausgang nicht einfach zu finden“, sagt Christian Frey, Fachexperte für Innovationen am internationalen Hauptsitz der Siemens-Division Building Technologies in Zug/Schweiz. Intelligente Informationstechnologien können hier Abhilfe schaffen, etwa durch Massen-SMS und Sprachalarme, durch Warnungen auf den Computerbildschirmen an den Arbeitsplätzen, durch Hinweise auf großen Digitalscreens in Treppenaufgängen und Korridoren oder mittels Pfeilen auf Smartphones, die den kürzesten und sichersten Fluchtweg weisen. Siemens hat seine Mass-Notification-Lösung in den USA bereits im Einsatz und wird sie demnächst auch in Europa einführen.
Gleichzeitig werden in diesem Szenario die Menschenströme von Sensoren erfasst. „Damit können intelligente Gebäudesicherheitssysteme frühzeitig erkennen, wenn ein bestimmter Fluchtweg droht, zu überlasten. Die Menschen werden dann auf alternativen Fluchtwegen schnell und sicher aus dem Gebäude geleitet“, erklärt Frey.
Prognose mit virtuellem Feuer
In Zukunft könnte das Gebäudemanagementsystem sogar direkt an das Computersystem der Feuerwehr gekoppelt werden. Dann erhalten die Rettungskräfte einen digitalen Gebäudeplan, der nicht nur den Brandherd, sondern auch die Ausbreitungsrichtung des Feuers anzeigt. Simulationsexperten von Siemens CT haben bereits eine Methode entwickelt, um die Ausbreitung eines Feuers in verschiedenen Gebäudetypen vorauszuberechnen.
Sie legen ein „virtuelles Feuer“, um dessen unterschiedliche Wirkung auf verschiedene Umgebungen, Gebäudetypen und Ausstattungen zu untersuchen: Sind die Räume leer oder möbliert? Sind sie mit leicht entflammbaren oder mit feuerfesten Materialien eingerichtet? Aus welchen Baustoffen sind Wände und Fußböden? Wo liegen Leitungen? Die Ausbreitung von Feuer lässt sich damit präzise prognostizieren – künftig ein wichtiges Tool für jede Einsatzleitung, um schnell und effektiv die nötigen Maßnahmen zu ergreifen. Die Siemens-Experten wollen noch weitergehen und zukünftig auch Simulationen für Flutkatastrophen, Explosionen, Erdbeben und Stürme entwickeln.
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