Von Industrie 4.0 und cyberphysischen Produktionssystemen
Die Rede ist von der vierten industriellen Revolution: Die Welt von „Industrie 4.0" ist geprägt von Digitalisierung und Internetkommunikation zwischen Maschinen, Mitarbeitern und K...
Die Rede ist von der vierten industriellen Revolution: Die Welt von „Industrie 4.0" ist geprägt von Digitalisierung und Internetkommunikation zwischen Maschinen, Mitarbeitern und Kunden. Via Internet werden etwa Aufträge erfasst und an selbstoptimierende Produktionseinheiten weitergeleitet. Daraus erwächst eine Vielzahl von Herausforderungen für die produzierende Industrie. Regina Berg-Jauerning von GIT-SICHERHEIT.de sprach darüber mit Susanne Kunschert, geschäftsführende Gesellschafterin, Stefan Olding, Geschäftsführer Vertrieb und Armin Glaser, Leiter Produktmanagement bei Pilz.
GIT-SICHERHEIT.de: Was unterscheidet Industrie 4.0 von heute konventionellen Produktionsprozessen?
Armin Glaser: Insgesamt führt der Einsatz von Internet-Technologien zu intelligenteren - aber gleichzeitig auch komplexeren - Produktions- und Logistikprozessen. Dadurch lassen sich industrielle Prozesse in der Produktion, dem Engineering, der Materialverwendung sowie im Lieferketten- und Lebenszyklusmanagement verbessern. Stichwort hierfür sind die so genannten cyberphysischen Produktionssysteme. Diese Systeme mit intelligenten Maschinen, Lagersystemen und Betriebsmitteln tauschen eigenständig Informationen aus, lösen Aktionen aus und steuern sich gegenseitig.
In der Welt der „Industrie 4.0" sagen die Produkte per RFID-Chip oder Barcode beispielsweise, was mit ihnen als nächstes im Produktionsprozess gemacht werden soll. Damit ist die Verheißung von mehr Individualität, Flexibilität und Beschleunigung der Produktion verbunden. Können Sie uns das noch etwas näher erläutern?
Susanne Kunschert: Industrie 4.0 sieht eine industrielle Produktion, die sehr stark durch das Internet geprägt sein wird. Internet-Technologien werden in Produktionsprozessen eingesetzt werden, damit zukünftig flexibler und effizienter produziert werden kann. Zwischen den teilweise autonom agierenden technischen Systemkomponenten findet ein reger und oft zeitkritischer Daten- und Informationsaustausch statt, zugleich sind wesentlich mehr Akteure entlang der Wertschöpfungskette beteiligt. Industrie 4.0 bedeutet also nicht mehr als dass alles mit allem, also z. B. Systeme, Maschinen, Mitarbeiter und auch Kunden miteinander vernetzt sind und so mit- und untereinander kommunizieren können. Beispielsweise lässt sich eine Produktion viel flexibler und in Echtzeit umstellen, wenn Kunden per Internet Sonderwünsche mitteilen.
Wie verändern sich die Anforderungen an die Maschinen durch diese Verschmelzung von virtueller und realer Welt - welche Herausforderungen kommen auf unsere (mittelständischen) Maschinenbauer zu?
Stefan Olding: Grundsätzlich gilt es zu differenzieren, dass wir vom „Internet der Dinge" als auch von „Internet der Dienste" sprechen. Die Verbindung zur virtuellen Welt wird über das „Internet der Dienste" realisiert. Im Wesentlichen ist hiermit die Anbindung des World-Wide-Web über entsprechende Firmennetze an intelligente Automatisierungbaugruppen gemeint - bei Industrie 4.0 sprechen wir von CPS - Cyber Physical Systems. Ziel ist es, Kundenaufträge weltweit zu erfassen und über die Firmendatenbanken auftragsbezogen an selbstoptimierende Produktionseinheiten weiterzuleiten. Herausforderungen sind erstens die Sicherheit des Netzes, zweitens harmonisierte Kommunikationsstrukturen zwischen den Systemen und drittens selbstoptimierende Datenbanksysteme zur Auftragsdurchführung sowie viertens automatische Ressourcenverwaltung anhand der Auslastung der einzelnen CPS - Cyber Physical Systems.
Wie sehen Ihre eigenen Visionen hinsichtlich Industrie 4.0 aus?
Susanne Kunschert: Drei Visionen sind es, die Pilz mit Industrie 4.0 in Verbindung bringt: Zunächst besitzen Safety und Security deutliche Parallelen in der Standardisierung und der Vorgehensweise im Engineeringprozess. Wir wollen mit unserer Erfahrung aus Maschinensicherheit und Automation diese wichtige Arbeit voranbringen. Das Zweite ist: Alle für die Steuerungsfunktion erforderlichen Geräte und Automatisierungskomponenten erhalten einen direkten Internetzugang für Diagnose und Wartung (Cyber-Physical Systems). Damit steigen für diese Geräte die Anforderungen in Bezug auf Security und einheitlicher Diagnoseanbindung und -darstellung. Und schließlich: Unsere modernen Steuerungsfunktionen sind auf eine Verteilbarkeit und Objektorientierung ausgelegt - Sensoren und Aktoren werden intelligent. Wir bilden damit den Trend zu mechatronischen Steuerungsobjekten, also Automatisierungskomponenten in unseren Produkten und den zugehörigen Engineeringtools ab.
Stefan Olding: Meine persönlichen Vorstellungen bzw. Visionen lehnen sich am Vorbild „Mensch" an. Nimmt man diesen als Vorbild für die Automatisierung, so sind seine Sinne und die Verarbeitung derselben in motorischer Hinsicht gutes Beispiel für sozusagen eine komplette Automatisierung. Bis die Automatisierung so perfekt wie der Mensch funktioniert, ist es sicherlich noch ein weiter Weg, der weitere Herausforderungen birgt.
Armin Glaser: Ich sehe eine steigende Vernetzung und Dezentralisierung, die zu autonomen und autarken Prozessen führt, die aber in der Lage sind, im Verbund wie eine zentral gesteuerte Einheit zu agieren und gleichzeitig die Flexibilität von kleinen Einheiten zu nutzen. Dann heißt Industrie 4.0 für mich, dass die Steuerungsfunktionalität eigenständiger wird und sich anhand der Produktionsaufträge und den jeweiligen Umgebungsvariablen individuell optimiert. Es werden so technische Systeme entstehen, die sich in ihrem Wirken selbst abstimmen und optimieren. Und schließlich ist meine Vision von Industrie 4.0, dass es Parallelen zur Arbeitsteilung bei den menschlichen Arbeitsprozessen geben wird - von einer vormals zentralistisch geprägten direktiven Arbeitsweise zur heute praktizierten kooperativen Zusammenarbeit.
Sie sind bzw. waren ja in verschiedenen Arbeitskreisen tätig, die sich mit der Weiterentwicklung von Industrie 4.0 beschäftigen - welche konkreten Ziele verfolgen Sie hier?
Susanne Kunschert: Als Mitglied der Promotorengruppe Sicherheit hat sich Pilz mit dem effektiven Schutz von Kommunikationsnetzen und der Entwicklung von Deutschland als Leitmarkt für Sicherheitstechnologie befasst. Mit zunehmender Vernetzung von Maschinen treffen in Bezug auf das Thema Sicherheit zwei Welten aufeinander: Die Welt der Automatisierung verschmilzt mit der IT-Welt. Die Herausforderung liegt darin, die Anforderungen beider Welten zu praktikablen Lösungen zu standardisieren. Durch unsere Mitarbeit in der Promotorengruppe Sicherheit der deutschen Forschungsunion hat Pilz dazu beigetragen, dass Sicherheit bei Industrie 4.0 als erfolgskritischer Faktor gesehen wird. Wir setzen uns für eine ganzheitliche Betrachtung von Sicherheit mit seinen beiden Formen Safety und Security ein. Wir wollen mit unserer Erfahrung aus den Bereichen Maschinensicherheit und Automation diese Arbeit voranbringen.
ZVEI-Präsident Friedhelm Loh will Deutschland zum Leitmarkt und Leitanbieter innovativer internetbasierter Produktionstechnologien machen - und auch VDMA-Präsident Thomas Lindner sieht unser Land insoweit auf international herausragender Position. Wie sehen Sie das?
Stefan Olding: Die Initiative der Bundesregierung in Form der Forschungsunion belegt die Bedeutung dieses Themas. Deutschland stellt mit seinen innovativen Automatisierungstechnikherstellern den führenden Automatisierungsmarkt in der Welt. Insbesondere werden Innovationen maßgeblich durch den Mittelstand getrieben. Diese Automatisierungstechnik kombiniert mit dem herausragenden deutschen Maschinenbau ermöglicht Deutschland eine exponierte Rolle als Technologieführer bzw. als Leitanbieter. Diese Position gilt es zu wahren und auszubauen. Die Herausforderung liegt darin, die Schnittstellen der Komponenten und Systeme verschiedener Hersteller untereinander zu harmonisieren, ohne dabei den Wettbewerbscharakter zu verlieren. Hier erwarte ich eine Ausgewogenheit zwischen Großkonzern und Mittelstand.
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