01.08.2022 • TopstoryWirtschaft

Wie lässt sich das Risiko von Lieferengpässen für die Wirtschaft reduzieren?

Die Multisourcing-Strategie als ein wirksames Mittel, um die Resilienz internationaler Lieferketten zu stärken.

Als das Containerschiff „Ever Given“ im April 2021 im Suezkanal stecken blieb, verursachte der längerfristige Stau hunderter Schiffe eine massive Störung der Lieferketten in vielen Branchen. Aktuell führen der strikte Lockdown in China und der Überfall Russlands auf die Ukraine zu zahlreichen Lieferengpässen, die die Wirtschaft weltweit belasten. Die deutsche Wirtschaft muss sich auf eine zusätzliche Erschwerung durch das Lieferkettengesetz einstellen. Min. Dir. a. d. Reinhard Rupprecht analysiert das Risiko und zeigt, wie es sich eingrenzen lässt.
 

Lieferengpässe: ein Problem jeder arbeitsteiligen Wirtschaft


Dass der Hersteller eines Endprodukts, erst recht das Handwerk und der Warenhandel, auf Zulieferungen der verschiedensten Art, Rohstoffe Produktkomponenten, Tools und Produktionsmittel, angewiesen ist, gehört nicht erst zu den Erkenntnissen und Problemen moderner Wirtschaftsorganisation, sondern ist eine selbstverständliche Folge jeder arbeitsteiligen Wirtschaft. Zulieferprozesse auf dem Weg der Fertigung von Waren und der Erbringung von Dienstleistungen für den Endverbraucher gab es in der Antike ebenso wie im Mittelalter und erst recht in der gesamten Industriegeschichte. Aber im Lauf der Jahrhunderte ist die Organisation und Arbeitsteilung in der Wirtschaft aufgrund ökonomischer Grundsätze und Zwänge immer weiter fortgeschritten.

Mit der Ausdehnung des internationalen Handels, dem technologischen Fortschritt, Erkenntnissen der betriebswirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Forschung und der Nachfrage der Konsumenten nach immer leistungsfähigeren und möglichst preisgünstigen Produkten hat die Breite und Tiefe der Zulieferprozesse beständig zugenommen. Lieferspektren und Lieferketten sind mit der wachsenden industriellen Spezialisierung und der Globalisierung der Wirtschaft immer komplexer geworden. Viele Unternehmen haben in den letzten Jahrzehnten Produktionsprozesse in Länder verlegt, in denen der Arbeitsmarkt, das staatliche Steuer- und Förderungssystem günstiger und das Lohnniveau niedriger war als in Deutschland. 

Ein weiterer Treiber der Ausdehnung von Lieferketten war die Möglichkeit der Einsparung von Lagerraum durch die unmittelbare Zulieferung an das Fließband. Je differenzierter und komplexer der Zulieferprozess geworden ist, umso störanfälliger und risikoreicher ist er für das Unternehmen, das auf die Zulieferung angewiesen ist, das seinen Produktionsplan und seinen Dienstleistungs-Terminkalender exakt auf die vertraglich vereinbarten Liefertermine abgestellt hat. Der Ausfall der Zulieferung, schon ihre Verspätung, führt unweigerlich zu Betriebseinschränkungen und -unterbrechungen, Vertragsbrüchen gegenüber Kunden, zu Umsatz- und Kundenverlusten, zu Kurzarbeitsphasen und vertragsbedingten Kündigungen.
 


Ursachen der Störung von Zulieferungen und Lieferketten


Die Ursachen für die Störung von einzelnen Zulieferungen und ganzen Lieferketten sind vielfältig:

  • betriebliche, wirtschaftliche oder soziale Probleme in einem an dem Zulieferungsprozess beteiligten Unternehmen
  • Krisen und gravierende Veränderungen im politischen System oder in der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes, aus dem oder durch den Lieferungen erfolgen
  • Verknappung von Rohstoffen aufgrund von Naturkatastrophen
  • enorme Preissteigerungen, die einzelne Partner in der Lieferkette nicht auffangen können
  • Nichtbeachtung von Menschenrechten in Ausgangs- oder Durchgangsstaaten
  • Störung der Transportwege durch politische Konfrontationen, kriegerische Ereignisse, Sperrung von Wasserwegen oder des Luftraumes und durch Piraterie
  • Verknappung von Transportmitteln, insbesondere von Containern

Die derzeitige Problematik der Störung vieler Lieferkanäle und Lieferketten zeigt die Komplexität des Zusammentreffens mehrerer Störungsursachen: der coronabedingte Lockdown in vielen Industriezentren Chinas, insbesondere in Shanghai und dessen weltgrößtem Hafen, mit der Zunahme von Naturkatastrophen in vielen Teilen der Welt und mit den Auswirkungen der Invasion des russischen Militärs in der Ukraine und der damit verbundenen Sperrung von Häfen und Meerengen. Auch die Sperrung des russischen Luftraumes hat sich auf bestehende Lieferketten ausgewirkt: auf die Länge der Flugstrecken von Asien nach Europa, auf die Kapazität von Transportflügen und auf die Transportkosten.

Die Lieferengpässe wachsen in einer derartigen Gemengelage von Ursachen exponentiell an, getrieben auch von einer weltweiten Verknappung von Containern. Im Mai 2022 beklagten über 80 % aller Einzelhändler, 99 % der Baumärkte und 97,5 % der Fahrradhändler Lieferengpässe (FAZ vom 2. Juni 2022).

Hinzu kommt die Belastung von Unternehmen, die ihren Sitz oder ihre Hauptverwaltung in Deutschland haben, durch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LKSG) vom 16. Juli 2021, das für Unternehmen mit mindestens 3.000 Arbeitnehmern ab 1. Januar 2023 und mit mindestens 1.000 Arbeitnehmern ab Januar 2024 gilt. Betroffen sind ab Januar 2023 über 600 Konzerne und ab 2024 knapp 3.000 Unternehmen. Das LKSG zielt auf den Schutz der Menschenrechte im umfassenden Sinne – aller in einer Anlage zum Gesetz aufgelisteten Übereinkommen – und der Umwelt ab. Sorgfaltspflichten bestehen insbesondere in der Einrichtung eines Risikomanagements, der Festlegung betriebsinterner Zuständigkeit und Verantwortlichkeit sowie eines unternehmensinternen Beschwerdeverfahrens, der Abgabe einer Grundsatzerklärung, in der Durchführung von Präventions- und Abhilfemaßnahmen und der Umsetzung der Sorgfaltspflichten auch bei mittelbaren Zulieferern. 

78 % der vom diesjährigen Ökonomiepanel des Münchner Ifo-Instituts befragten 158 Wirtschaftsprofessoren sind der Ansicht, dass das Gesetz das Auslandsgeschäft der betroffenen Unternehmen erschweren wird. Das Gesetz stellt Kriterien für die Angemessenheit der jeweiligen Sorgfaltspflichten auf und bewehrt die Nichtbefolgung mit Geldbußen und dem Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge. Bei einer Umfrage der Bundesregierung im Dezember 2019 hatten nur knapp 20 % der 400 teilnehmenden Firmen angegeben, Vorkehrungen dafür getroffen zu haben, dass Zulieferer aus Entwicklungsländern Umwelt- und Sozialstandards einhalten. Dass die Umsetzung der gesetzlich geforderten Sorgfaltspflichten je nach Ursprung und Umfang der Lieferkette eine erhebliche Belastung darstellen, leuchtet ein. Sie trägt aber auch zur Reputation des Unternehmens bei und kann das Marketing unterstützen.


Risikoanalyse der Lieferketten: Prävention und Risikoreduzierung


Ebenso vielfältig wie die Ursachen für Lieferengpässe sind die grundsätzlichen Möglichkeiten, diese Risiken zu reduzieren. Aber alle diese Möglichkeiten müssen von den betroffenen Unternehmen mit hohem organisatorischem, personellem und vor allem finanziellem Aufwand und Umsatzeinbußen teuer erkauft werden. In einer Risikoanalyse sind alle bestehenden und zu erwartenden Lieferengpässe zu erfassen und zu bewerten. Die Basis für diese Risikoanalyse bilden alle relevanten Daten und Informationen, die im eigenen Unternehmen, bei den einzelnen Lieferanten, bei den jeweiligen binationalen Handelskammern und bei den Wirtschafts- und Sicherheitsbehörden anfallen und eingeholt werden können. Alle Stufen in der Wertschöpfungskette müssen auf mögliche Störfaktoren und sich abzeichnende Bruchstellen überprüft und einem ständigen Monitoring unterzogen werden.

Zu den grundsätzlichen strategischen Überlegungen gehört zunächst die Überprüfung, ob, in welchem Ausmaß und mit welchen Folgen ausgelagerte Produktions- und Logistikbereiche zurückverlagert werden können. Viele Zulieferungen aus dem Ausland sind mangels notwendiger Rohstoffe oder mangels Know-how nicht oder nur schwer ersetzbar. Das zeigt sich zum Beispiel gegenwärtig in der Abhängigkeit der in osteuropäischen Ländern betriebenen Kernkraftwerke von Russlands Atomindustrie.

Der 3D-Druck wird künftig in manchen Fällen die Lieferengpässe beseitigen, weil sich so Produktkomponenten je nach Bedarf just in time produzieren lassen. Insourcing ist an viele Voraussetzungen und Bedingungen geknüpft. Dazu zählt auch die Abschätzung der Fortdauer oder Beendigung der jeweiligen Lieferstörung in absehbarer Zeit. In manchen Fällen wird es möglich sein, die Bedingung der Zulieferung just in time direkt in den Produktionsprozess zur Einsparung von Lagerflächen und Einlagerungsprozessen aufzuheben oder zu lockern.

Zu den sicher möglichen Präventionsvorkehrungen gehört die Einbeziehung von Störfaktoren in Verträge mit Partnern in der Lieferkette mit entsprechenden Handlungspflichten und Sanktionen bei deren Unterlassung. Sie sollten insbesondere verpflichtet werden, das Insolvenzrisiko der Zulieferer in ihrem Beobachtungsbereich zu verfolgen. Eine weitere mögliche Präventionsmaßnahme zur Reduzierung von Lieferausfällen ist der Aufbau von Redundanzen. Noch mehr Sicherheit als die vertragliche Absicherung eines „Dualsourcing“ gibt eine „Multisourcing“-Strategie.

Diversifizierung ist auch für die vom Ökonomiepanel des Ifo-Instituts befragten Ökonomen das beliebteste Mittel, um die Resilienz der internationalen Lieferketten zu stärken. 88 % sprechen sich dafür aus, und 64 % priorisieren die Beschaffung aus den EU-Staaten. Besonders wichtig im Rahmen der Risikoanalyse sind Transparenz und eine umfassende grafische dynamische Darstellung der Lieferspektren und Lieferketten des Unternehmens sowie die Einführung und strikte Beachtung eines Frühwarnsystems. Hierfür ist ein datenbankbasiertes Verfahren der „Predictive Risk Intelligence“ (PRI) entwickelt worden. Einbezogen in die Datenanalyse werden neben makroökonomischen auch Social Media-Daten. So werden Frühzeichen von Lieferstörungen oder der Entwicklung von Einflussfaktoren auf Störungsursachen erkennbar.

In der FAZ vom 11. April 2022 wird diese PRI-Technologie im Hinblick auf den Störfaktor Streik in der Lieferkette erörtert. Die automatisierte Datenanalyse – eine Form künstlicher Intelligenz – sucht nach sprachlichen und geografischen Mustern in „Postings“ wie „Überstunden“ oder „Lohnausfall“, die in geografischer Nähe abgesetzt wurden. Tauchen solche Muster immer wieder auf, dann löst die Software eine Streikwarnung aus. Auch bei der Umsetzung der Sorgfaltspflichten nach dem LKSG kann ein solches computergestütztes Verfahren hilfreich sein, wenn es gelingt, durch die Auswertung sowohl makroökonomischer Daten wie Informationen aus Postings, die in der Lieferregion abgesetzt wurden, potentielle Missstände in den Arbeitsbedingungen bis hin zu Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen durch Lieferunternehmen aufzuspüren. Die Beachtung der Sorgfaltspflichten nach dem LKSG muss in das Compliance-Management aufgenommen werden. Dazu gehört auch der Schutz von Whistleblowern vor jeglichen Benachteiligungen.


Fazit: Mehr Raum für Resilienz


Insgesamt gibt das derzeit komplexe Auftreten von Lieferengpässen mit allen seinen nachteiligen betriebswirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Auswirkungen Anlass, der Resilienz als Bestandteil einer proaktiven Unternehmenskultur mehr Raum zu geben, auch zu Lasten der gewinnorientierten Effizienz. Lieferketten und Lieferkanäle müssen robuster werden. Völlig falsch wäre es hingegen, die Globalisierung in der Industrie und dem Handel generell abzubauen. Denn sie ist für die ökonomische, ökologische und demokratische Entwicklung der beteiligten Staaten unentbehrlich.

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