Dynamische Sicherheit: Aktuelle Entwicklungen im Freiheitsentzug
Wenn Menschen mit dem Gesetz in Konflikt geraten, droht ihnen unter Umständen der Entzug ihrer Freiheit. Drei Dimensionen des Freiheitsentzugs sind dabei möglichst in ein Gleichgewicht zu bringen: Passive, prozedurale und dynamische Sicherheit. Ein Beitrag von Ahmed Ajil und Grégoire Dorsaz vom Schweizerisches Kompetenzzentrum (SKJV) für den Justizvollzug.
In Deutschland wurden im Jahr 2021 insgesamt 150.897 Personen in ein Gefängnis eingewiesen, 8.630 waren es in Österreich, 42.620 in der Schweiz. Die meisten von ihnen verbrachten dort wenige Tage, andere ein paar Monate, wiederum andere werden erst, wenn überhaupt, nach mehreren Jahren entlassen. In Deutschland betrug die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Gefängnissen etwa 4,5 Monate, in Österreich ca. 12 Monate und in der Schweiz knapp 2 Monate.
Unter erschwerten Bedingungen – der Vielzahl an Ein- und Austritten sowie oft kurzen Aufenthaltsdauern – müssen die Mitarbeiter in den Einrichtungen des Freiheitsentzugs zwei schier gegensätzliche Aufträge erfüllen: Die Gesellschaft vor Personen schützen, die andere gefährden können, und gleichzeitig zur sozialen Wiedereingliederung ebendieser Personen beitragen, indem sie ihre Fähigkeit, ein straffreies Leben in Freiheit, fördern.
Das Konzept der dynamischen Sicherheit setzt hier an: Es fokussiert auf den Gefängnisalltag und die Mitarbeitenden, die durch ihre tägliche Arbeit mit inhaftierten Personen im Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz genau diese Aufträge zu erfüllen haben. Denn obschon passive (baulich-technische) Sicherheit für das Gewährleisten einer sicheren Umgebung unerlässlich ist, und der Gefängnisalltag ohne klar definierte Abläufe (prozedurale Sicherheit) chaotische Zustände annehmen würde, hängt erfolgreiche Wiedereingliederung letztendlich vor allem von der professionellen Arbeitsbeziehung zwischen Vollzugspersonal und inhaftierten Personen ab. Und zwar insbesondere davon, ob diese Beziehung die Einstellungen und das Verhalten der strafverurteilten Person positiv zu beeinflussen vermag.
Die drei Dimensionen der Sicherheit im Kontext des Freiheitsentzugs sollten sich stets im Gleichgewicht befinden.
(Tab. 1. ©SKJV)
Arbeiten zu dynamischer Sicherheitin der Schweiz
In der Schweiz sind die Sicherheitsbehörden, wozu auch die Einrichtungen des Freiheitsentzugs gehören, primär kantonal organisiert. Die Kantone harmonisieren ihre regionale Praxis teilweise im Rahmen von Strafvollzugskonkordaten. Auf nationaler Ebene ist das Schweizerische Kompetenzzentrum für den Justizvollzug (SKJV) für die Ausbildung des Aufsichts- und Betreuungspersonals zuständig und behandelt verschiedenste Themen, die für die Praxisentwicklung von Relevanz sind. So erarbeitet das SKJV Analysen, Handbücher, Themendossiers sowie Merkblätter zu Themen wie Gesundheit, Leadership und Management, Personen mit besonderen Bedürfnissen, Wiedereingliederung und Rückfallprävention, und selbstverständlich auch zum Thema Sicherheit und Schutz.
2021 veröffentlichte das SKJV das Handbuch „Dynamische Sicherheit im Freiheitsentzug“. Das Handbuch hat zum Ziel, den Justizvollzugspraktikern das Konzept der dynamischen Sicherheit näher zu bringen. Es fasst die wissenschaftlichen Erkenntnisse und internationale Richtlinien zusammen und ergänzt diese mit der Expertise von Praktikern aus allen Regionen der Schweiz. Um möglichst praxisrelevant zu sein, enthält es auch konkrete Vorschläge und einen Katalog von bewährten Praktiken für die Umsetzung des Konzepts.
Vier Aspekte
Wenn dynamische Sicherheit in einer Einrichtung gelebt wird, drückt sie sich durch folgende Aspekte aus (Grafik ©SKJV):
- Aufmerksamkeit gegenüber Veränderungen unter inhaftierten Personen, wobei ein besonderes Augenmerk auf Risikogruppen (selbst- und fremdgefährdend) gelegt wird.
- Interaktivität: Eine aktive Präsenz des Personals (z. B. im Pausenbereich, am Arbeitsplatz) ist gewährleistet und das Gespräch mit inhaftierten Personen wird so häufig wie möglich proaktiv gesucht.
- Positive Beziehungsarbeit: Arbeitsbeziehungen im Rahmen des Strafvollzugs sind so ausgestaltet, dass trotz der Gefangenschaft ein konstruktives Klima herrscht (insbesondere strafverurteilte Personen können sich erfolgreich auf die gesellschaftliche Wiedereingliederung vorbereiten). Inhaftierte Personen wenden sich bei Problemen frühzeitig an das Personal.
- Deeskalation: In Krisensituationen, wie sie im Gefängnisalltag häufig vorkommen, schafft es das Personal, seine Professionalität zu bewahren und die notwendigen Massnahmen unter Beachtung der Verhältnismässigkeit einzuleiten.
Von unerlässlicher Bedeutung ist, dass das Vollzugspersonal in den alltäglichen Interaktionen mit den Personen im Freiheitsentzug relevante Ereignisse und Informationen aufnimmt und diese in ein systematisches Informationsmanagement einspeist. Nur so kann die sogenannte Prison Intelligence gewährleistet werden, die dazu dient, Problemsituationen frühzeitig zu erkennen und präventiv zu behandeln. Um die dynamische Sicherheit umzusetzen, braucht es schließlich die Unterstützung der Anstaltsleitung, eine konstruktive Fehlerkultur, sowie die notwendigen Personalressourcen und eine aktive Gesundheitsförderung für das Personal.
E-Learning
Um das Konzept der dynamischen Sicherheit einer breiteren Zielgruppe zugänglich zu machen, wurde durch das SKJV neben dem Handbuch auch ein E-Learning entwickelt. Beide Lehrmittel stehen kostenlos in vier Sprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch, Englisch) zur Verfügung. Das United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) hat das E-Learning zudem auf Spanisch übersetzt, insbesondere für den lateinamerikanischen Kontext. In der Schweiz werden auf dieser Grundlage Weiterbildungskurse für das ganze Justizvollzugspersonal angeboten. Gewisse Anstalten haben den Kurs, welcher das E-Learning mit Präsenzunterricht kombiniert, für obligatorisch erklärt.
Die Rückmeldungen zu diesen Angeboten des SKJV sind vonseiten der Fachpersonen bisher sehr positiv ausgefallen. So wird vor allem das E-Learning zu dynamischer Sicherheit aufgrund der praktischen Beispiele und der Flexibilität geschätzt. Es ermöglicht ein ort- und zeitunabhängiges Lernen im eigenen Tempo und kann z. B. per Handy absolviert werden. Der Präsenztag ermöglicht zudem den anstaltsübergreifenden Erfahrungsaustausch.
Kaffeetrinken mit Gefangenen? Wieso denn nicht?
Vor allem dienstjüngere Mitarbeiter tragen dazu bei, das Konzept aus den starren Seiten des Handbuchs und der Oberfläche des E-Learning in die Einrichtungen des Freiheitsentzugs zu tragen, wo es in Alltags- als auch Krisensituationen verhandelt, geprüft und angepasst wird. Allmählich macht sich der Kulturwandel, der durch das Konzept der dynamischen Sicherheit angestrebt wurde, in den Einrichtungen bemerkbar.
Mittlerweile hat sich das Bewusstsein entwickelt, dass es richtig und wichtig ist – und zwar aus einer Sicherheitsperspektive – mehr Zeit in Gespräche und Interaktionen mit inhaftierten Personen zu investieren. Dieses Bewusstsein mündet in konkrete Bemühungen, neue Räume und Gelegenheiten für Interaktionen zu schaffen, und dies trotz begrenzter Ressourcen.
Um die dynamische Sicherheit in den Einrichtungen weiter zu fördern, braucht es jedoch mittelfristig mehr personelle und zeitliche Ressourcen. Dies bedingt wiederum, dass die Direktionen und Führungspersonen im Freiheitsentzug selbst vom Konzept überzeugt sind und für dieses einstehen. Nur so kann das positive Momentum genutzt und das Konzept der dynamischen Sicherheit zu sichereren Haftbedingungen und der Wiedereingliederung strafverurteilter Personen beitragen.
Einen webbasierten Trainingskurs „Dynamic Security“ können Sie hier absolvieren
Dieser Beitrag erschien in unserer Sonderausgabe "GIT Special JVA & Forensik", die hier zu lesen ist.
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