27.11.2024 • Topstory

Künstliche Intelligenz und Krisenmanagement – das Projekt SPELL

2021 startete das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geförderte Forschungsprojekt SPELL. Ziel: künstliche Intelligenz (KI) zur besseren Bewältigung von Krisensituationen wie Naturkatastrophen, Blackouts oder Pandemien nutzbar machen, aber auch allgemein eine schnellere und situationsgerechtere Versorgung und Hilfe bei Notfällen ermöglichen. Gerade in solchen Situationen ist es absolut entscheidend, sich schnell ein umfassendes Bild über die Lage zu machen, wenn es darum geht, in kürzester Zeit richtige Entscheidungen zu treffen. Doch genau hier liegt das Problem: Um ein umfassendes Lagebild zu erstellen, braucht es viele Daten und daher auch viel Zeit, diese zu sammeln und auszuwerten. Zeit, die oft nicht zur Verfügung steht. Um dieses Spannungsfeld aufzulösen, kann KI einen wichtigen Beitrag leisten, wenn es darum geht, entscheidende Informationen schnell zu erfassen, auszuwerten und Entscheidungshilfen zu geben.

Die Grafik veranschaulicht das Zusammenspiel von Daten- und Informationsquellen...
Die Grafik veranschaulicht das Zusammenspiel von Daten- und Informationsquellen mit KI-basierten Mehrwertdiensten zur Entscheidungsunterstützung.
© Verband für Sicherheitstechnik e.V.

Wie das Projekt sich entwickelt hat, wie konkrete Lösungsansätze aussehen und ob sich daraus Anwendungen für die Praxis ergeben, berichten Dr. Eric Rietzke (Projektleiter und Senior Researcher beim Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz – DFKI), David Teppe (Head of Strategic Alliances bei Advancis), Sabrina Steinert (Public Funding bei Apheris), Annkathrin Seefeldt (UX Designerin bei Empolis) und Pascal Gerber (Data Scientist beim Fraunhofer IESE) im Interview mit GIT SICHERHEIT. 

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Dr. Eric Rietzke, Projektleiter und Senior Researcher beim Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz – DFKI
© DKI

GIT SICHERHEIT: Zum Einstieg in das Interview wäre es natürlich interessant, erst einmal etwas mehr über das Forschungsprojekt SPELL zu erfahren. Wie sah die allgemeine Zielsetzung aus?

Dr. Eric Rietzke:
Das Forschungsprojekt SPELL (Semantische Plattform zur intelligenten Entscheidungs- und Einsatzunterstützung in Leitstellen und Lagezentren) hat das Ziel, durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz und semantischen Technologien die Effizienz und Reaktionsfähigkeit von Leitstellen und Lagezentren in Krisensituationen zu verbessern. Die allgemeine Zielsetzung war es, eine Plattform zu entwickeln, die in der Lage ist, komplexe Daten in Echtzeit zu analysieren und den Einsatzkräften präzise und kontextbezogene Entscheidungshilfen zu bieten. Dies trägt entscheidend dazu bei, die Sicherheit und Effizienz in der Krisenbewältigung zu steigern und schneller auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren zu können.

Welche Rolle kann KI z. B. bei der Arbeit in einer Leitstelle spielen und können Sie uns hierzu ein griffiges Beispiel geben?

Dr. Eric Rietzke: Im Kontext von Notfällen ist es nicht nur wichtig, die richtigen Entscheidungen zu treffen, diese müssen auch noch sehr schnell getroffen werden. Genau hierbei kann KI einen entscheidenden Beitrag leisten. Durch eine intelligente Analyse großer Datenmengen in Echtzeit werden die im Projekt entwickelten KI-basierten Mehrwertdienste zu einer wertvollen Unterstützung für den Menschen, der letztlich immer noch die finalen Entscheidungen trifft. Ein griffiges Beispiel hierfür wäre die automatische Erkennung und Analyse von Notrufen.

Stellen Sie sich vor, eine Leitstelle erhält innerhalb kürzester Zeit zahlreiche Notrufe, die von einem größeren Unfall berichten. Hier könnte eine KI in mehreren Bereichen unterstützen:

  • Automatische Spracherkennung und -analyse: Mittels KI können eingehende Anrufe transkribiert und relevante Informationen extrahiert (wie Standort, Art des Vorfalls) und sofort an die Einsatzkräfte weiterleitet werden. Auch können emotionale Indikatoren in der Stimme erkannt werden, um die Dringlichkeit eines Anrufs besser einschätzen zu können.
  • Datenintegration: Parallel dazu kann mit KI-Diensten Informationen aus verschiedenen Quellen – beispielsweise Verkehrskameras, soziale Medien oder Wettersensoren – analysieren, um ein umfassenderes Lagebild zu erstellen. So kann sie den Einsatzkräften helfen, schnell eine präzisere Einschätzung der Situation zu bekommen.
  • Entscheidungsunterstützung: Auf Basis solcher Informationen können KI-Dienste Vorschläge zur optimalen Einsatzkoordination machen, etwa welche Ressourcen am dringendsten benötigt werden und wie sie am effizientesten verteilt werden können.
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David Teppe, Head of Strategic , Alliances bei Advancis
© Advancis

Jeder von Ihnen arbeitet für ein Unternehmen oder Institut mit unterschiedlichen Spezialisierungen. Welches Know-how wurde von Ihnen bzw. Ihren Unternehmen jeweils in das Projekt eingebracht?

David Teppe: 
Als Advancis haben wir unser umfassendes Know-how im Bereich Sicherheits- und Gebäudemanagementlösungen in das SPELL-Projekt eingebracht. Unsere Kernkompetenz liegt in der Entwicklung der offenen Integrationsplattform WinGuard mit ihren bereits über 500 Schnittstellen zu Drittsystemen, die herstellerneutral Sicherheits-, Gebäude- und Energiemanagement-, Kommunikations-, IT-, KI-, Robotik- und IoT-Systeme über ein einheitliches Framework (AOP) für unterschiedliche Front- und Backend-Anwendungen bereitstellt. Hieraus ergaben sich drei wesentliche Rollen von Advancis im SPELL-Projekt:

  • WinGuard/AOP als Datenquelle/-lieferant für Sensordaten aus Industrie- und Gebäudeleitständen für die SPELL-Plattform;
  • WinGuard als Anzeige- und Alarmierungstool in Leitstellen, die SPELL betreiben;
  • Einführung und Betrieb von SPELL bei Endkunden von Advancis nach Projektabschluss.

Die Daten, die zur Einschätzung von Not- und Katastrophenfällen genutzt werden, stammen aus einer Vielzahl von Quellen. Dazu gehören unter anderem Notrufsysteme, Überwachungskameras, Zugangskontrollsysteme, Sensoren zur Brand- und Rauchdetektion sowie Wetterdaten oder auch Informationen aus sozialen Medien. Diese Daten müssen in Echtzeit gesammelt, verarbeitet und analysiert werden, um ein umfassendes und aktuelles Lagebild zu erstellen.

Hierbei spielt unsere Integrationsplattform WinGuard eine zentrale Rolle. WinGuard ist darauf ausgelegt, eine Vielzahl unterschiedlicher Systeme und Datenquellen in einer einheitlichen Benutzeroberfläche bedienen zu können und optional über eine einzige Programmierschnittstelle (AOP-API) Drittanwendungen bereitzustellen. Über die SPELL-Plattform können KI-Anwendungen realisiert werden, die auf Basis aller verfügbaren Sensordaten den Einsatzkräften wertvolle zusätzliche Entscheidungshilfen bieten können.

Im Rahmen des SPELL-Projekts konnte Advancis die Möglichkeit zur Anbindung an WinGuard durch Dritte deutlich verbessern. So konnte über eine einzige Integration zwischen SPELL und WinGuard auf Basis der AOP-API die unmittelbare Nutzbarkeit der über 500 bereits existierenden WinGuard-Schnittstellen durch externe KI-Dienste im Rahmen von Live-Prototypen erfolgreich demonstriert werden.

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Sabrina Steinert, Public Funding bei Apheris
© Apheris

Sabrina Steinert: Die Apheris AI GmbH ermöglicht kontrollierte, private und sichere Berechnungen auf föderierten Daten und unterstützt einige der weltweit bedeutendsten Daten-Konsortien. Das Kernprodukt von Apheris – das Apheris Compute Gateway – stellt sicher, dass nur konforme statistische und Machine Learning Anfragen ausgeführt werden können und Rohdaten niemals die IT-Infrastrukturen der Dateninhaber verlassen. Daten müssen nicht mehr bewegt werden und sind nie direkt zugänglich. Das ermöglicht sichere Zusammenarbeit mit jedem, auf allen Daten, und mit jedem Algorithmus.

Apheris hat im SPELL-Projekt ihre Expertise in der sicheren und datenschutzkonformen Nutzung von Daten im maschinellen Lernen eingebracht und allgemeingültige Datenschutzkonzepte für KI-Mehrwertdienste unter SPELL erarbeitet. Ebenfalls hat Apheris den KI-Mehrwertdienst VisionAI entwicket. Dieser Bildanalyse-Dienst wurde für die automatische Erkennung von Gefahrenstoffen im Schienengüterverkehr ausgearbeitet.

Beispielhaft Darstellung wie die verschiedenen KI-Dienste unter Wahrung des...
Beispielhaft Darstellung wie die verschiedenen KI-Dienste unter Wahrung des Datenschutzes entscheidende Informationen eines Bildes herausfiltern und aufbereiten.
© Apheris AI GmbH
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Annkathrin Seefeldt, UX Designerin bei Empolis
© Empolis

Annkathrin Seefeldt: Die Empolis Information Management GmbH widmet sich der Entwicklung der „Empolis AI Platform“ und der Implementierung von Anwendungen in Unternehmen auf Basis dieser Plattform. Damit verfügt Empolis über eine mehr als 20-jährige Erfahrung im Aufbau von Ontologien / Knowledge Graphen sowie in Graph-basierten Analysen, Visualisierungen, und der Entwicklung von semantischen Anwendungen. In dem Forschungsprojekt fließt vor allem die langjährige Expertise des Einsatzes von Knowledge Graphen bei Sicherheitsbehörden ein.

Als Herzstück des Vorhabens befasst sich die Empolis mit der Umsetzung der technischen Plattform von SPELL, die sowohl im Forschungsprojekt als auch in der späteren Verwertung einfach, wirtschaftlich, vertrauenswürdig und resilient genutzt werden soll.

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Pascal Gerber, Data Scientist beim Fraunhofer IESE
© Fraunhofer IESE

Pascal Gerber: Das Fraunhofer IESE zählt zu den führenden Forschungseinrichtungen im Bereich der Software- und Systementwicklung. Mit über 25 Jahren Erfahrung bietet das IESE bewährte Methoden und Lösungen zur Entwicklung qualitativ hochwertiger, komplexer Softwaresysteme. Im Rahmen des Projekts SPELL hat das Institut seine Expertise in der Entwicklung verlässlicher KI-Systeme eingebracht, um einen Ansatz für das Management von Unsicherheiten in KI-Komponenten bereitzustellen. So können Unsicherheiten während der Entwicklung und Laufzeit identifiziert und beherrschbar gemacht werden.

Bereits im Vorgespräch zu diesem Interview wurde wiederholt der Knowledge Graph erwähnt. Worum handelt es sich dabei und welche Bedeutung kommt dem Knowledge Graphen zu?

Annkathrin Seefeldt:
Knowledge Graphen, auch “Wissensnetze” genannt, dienen dazu, Wissen in IT-Systemen zu repräsentieren. Sie verwenden dazu eine Graph-Struktur aus Knoten und Kanten und eignen sich besonders, um komplexe Sachverhalte flexibel abzubilden und mit Verfahren der symbolischen KI auszuwerten. Empolis verfügt deshalb über eine eigene Knowledge Graph Plattform. Im Empolis Knowledge Graph sind sowohl Knoten als auch Kanten typisiert. Das bedeutet, dass gleichartige Dinge wie alle Personen, Verkehrsunfälle oder Einsatzverbände zu einem Typ zusammengefasst werden. Am Typ kann dann definiert werden, dass z. B. alle Personen ein Geburtsdatum haben können, Einsatzverbände einem Standort und Personen einem Verband angehören. Durch die Typen und ihre Zusammenhänge untereinander entsteht also ein Modell, das die Fachlichkeit der jeweiligen Anwendung beschreibt.

In SPELL wird im Knowledge Graph das Lagebild der jeweiligen Einsatzsituation abgebildet. Dazu gibt es Typen z. B. für “Ereignis”, “Person” oder “Rettungswagen” sowie Kantentypen wie “betrifft” oder “verwendet”. Die Einzelinformationen, die zusammen das Lagebild ergeben, werden dabei von den Fachsystemen der beteiligten Partner zugeliefert. Im Knowledge Graph laufen all diese Informationen zusammen und können in ihrer Gesamtheit analysiert werden. Die Ergebnisse dieser Analysen können dann wiederum zur Koordination von Einsatzmaßnahmen genutzt werden.

Welchen Nutzen können Wirtschaft und Institutionen aus dem Projekt SPELL ziehen?

David Teppe:
Die Erkenntnisse aus dem Projekt SPELL und dessen gesamtes Anwendungspotenzial stehen nun allen Unternehmen, KRITIS-Betreibern, BOS-, Industrie- und Gebäudeleitständen, KI-Start-ups, Lagezentren und Krisenstäben sowie privaten und öffentlichen Organisationen zur Verfügung. Advancis-Kunden, die die aktuelle Version von WinGuard bereits nutzen, erfüllen allein damit schon die technische Voraussetzung einer möglichen Anbindung an SPELL.

So vielfältig und breit aufgestellt wie die potenziellen Nutzer und Profiteure von SPELL insgesamt sind, so spezifisch sind auch die einzelnen Vorteile, die sich individuell und gleichzeitig für die Allgemeinheit aus jeder einzelnen SPELL-Implementierung heraus ergeben. Alle SPELL-Projekte haben jedoch gemein, dass bereits vorhandene, aber nicht vollständig genutzte Daten sowohl im Alltagsbetrieb und als auch bei sich abzeichnenden Krisensituationen in großer Zahl in hoher Qualität sehr schnell ausgewertet und, falls erforderlich, datenschutzkonform und organisationsübergreifend bereitgestellt werden können.

Wir möchten daher alle Wirtschaftsunternehmen, Industrieparks, Feuerwehren, öffentliche Verwaltungsreinrichtungen, Städte und Gemeinden sowie KRITIS-Betreiber dazu ermutigen, sich mit uns in Verbindung zu setzen, um die Möglichkeiten und Vorteile einer Implementierung von SPELL anhand ihrer gezielten Anforderungen und Schutzaufträge im Detail auszuarbeiten und idealerweise direkt im Anschluss auf die bestmögliche Weise umzusetzen.

Mit Hilfe des sogenannten Uncertainty Wrappers des Faunhofer IESE lässt sich...
Mit Hilfe des sogenannten Uncertainty Wrappers des Faunhofer IESE lässt sich die automatische Weiterverarbeitung falsch erkannter Daten minimieren.
© Fraunhofer IESE

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