Lockout, Tagout – wann LOTO eine sinnvolle Schutzmaßnahme ist
Die Artikel-Serie in Kooperation von VDMA Elektrische Automation und GIT SICHERHEIT beleuchtet verschiedene Arten von Schutzeinrichtungen und geht der Frage nach, wann welche Schutzmaßnahme/n sinnvoll bzw. erforderlich sind und worauf es bei Auswahl und Einsatz zu achten gilt. Eine der organisatorischen Schutzmaßnahmen ist LOTO – Lockout, Tagout. Um diesem Thema nachzugehen, stellt sich Dirk Heeren, Safety Competence Specialist & Certified Functional Safety Application Expert (SGS-Tüv Saar) bei der Sick Vertriebs-GmbH, den Fragen von GIT SICHERHEIT.
GIT SICHERHEIT: Herr Heeren, in den vorausgehenden Interviews zu dieser Reihe, hatten wir bereits eine Reihe technischer Maßnahmen für den sicheren Zugang zu Maschinen und Anlagen besprochen. Gibt es auf dieser Seite etwas, dass noch erwähnt werden sollte?
Dirk Heeren: Die richtige Auswahl von Schutzmaßnahmen ist enorm wichtig. Entscheidend ist nicht nur die Gefährdung vor der geschützt werden soll, sondern auch die Umgebung und Fähigkeiten der Maschinennutzer. Außerdem, und dies nicht zuletzt, sollte die ausgewählte Schutzmaßnahme die Bedienung der Maschine nicht negativ beeinflussen. Faktoren wie Ergonomie spielen bei der Auswahl und der Gestaltung von guten und wirksamen Schutzmaßnahmen eine entscheidende Rolle, um Manipulations- und Umgehungsanreize zu vermeiden. Erst nachdem eine sinnvolle Risikominderung durch technische Schutzmaßnahmen, die zweite Stufe des 3-Stufen-Vefahrens nach ISO 12100, nicht mehr möglich ist, sollten weitere Maßnahmen zur Benutzerinformation beschrieben werden. Diese führen dann üblicherweise zu Warnhinweisen, Benutzerschulungen oder auch sicheren Arbeitsprozessen wie zum Beispiel ‚Lockout, Tagout‘, allgemein auch unter dem Kurzbegriff LOTO bekannt.
Können sie uns die historischen und gesetzlichen Hintergründe von LOTO etwas näher erläutern?
Dirk Heeren: Die Geschichte der LOTO-Vorschriften in den Vereinigten Staaten von Amerika geht bis auf das Arbeitsschutzgesetz (Occupational Safety and Health Act, kurz OSHA) von 1970 zurück. 1989 wurde als technisches Regelwerk die LOTO-Norm zum Schutz der Arbeitnehmer vor der Freisetzung gefährlicher Energie bei der Wartung und Instandhaltung von Maschinen und Anlagen erlassen. Die Norm wird regelmäßig aktualisiert und von der OSHA durch umfangreiche Anleitungen, Schulungsmaterialien, Aufklärungsprogramme, Inspektionen und Strafen bei Nichteinhaltung durchgesetzt.
Die LOTO-Norm (ANSI / ASSE Z244.1) gilt für eine Vielzahl von Branchen, einschließlich der Fertigungsindustrie, des Baugewerbes und des Gesundheitswesens und deckt eine breite Palette von Geräten ab, wie zum Beispiel Pressen, Förderbänder und Roboteranlagen. Von Arbeitgebern verlangt die Norm eine regelmäßige Bewertung ihrer Energiekontrollverfahren, um sicherzustellen, dass sie die Freisetzung gefährlicher Energie wirksam verhindern. Die letzte Aktualisierung stammt aus dem Jahr 2016. Es wurden neue und aufkommende Technologien einbezogen und die Norm an internationale Konsensstandards angepasst. Die Zielsetzung der Kommission war es, jährlich schätzungsweise 120 Todesfälle und 50.000 Verletzungen zu verhindern.
Warum ist LOTO in den USA und Kanada stärker verbreitet als in Europa bzw. Deutschland?
Dirk Heeren: Gesetzliche und kulturelle Unterschiede spielen hier eine wesentliche Rolle. Die Verantwortung für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz liegt in den USA einzig beim Arbeitgeber, also auch dem Betreiber von Maschinen und Anlagen. Ein Pendant zur Maschinenrichtlinie, die Hersteller von Maschinen verpflichtet, bei Design und Herstellung ein Mindestmaß an Sicherheit- und Gesundheitsschutzanforderungen zu gewährleisten, gibt es nicht. Die technische Ausstattung für LOTO allerdings ist gesetzlich für Maschinen und Anlagen vorgeschrieben.
In Europa, und somit auch Deutschland, ist das LOTO-Verfahren allenfalls eine sinnvolle ergänzende administrative/organisatorische Maßnahme; also eine Risikominderungsmaßnahme nach Schritt 3 des 3-Stufen-Verfahrens zur Risikominderung nach EN ISO 12100. Die inhärent sichere Konstruktion einer Maschine sowie technische Schutzmaßnahmen sind diesem dritten Schritt zwingend voranzustellen.
Aktive Sicherheit (willensabhängig, USA) steht hier als Philosophie im Gegensatz zu passiver Sicherheit (willensunabhängig, Europa). Während bei der willensabhängigen Philosophie die eigene Sicherheit von der Umsetzung durch den Menschen abhängt, ist bei der willensunabhängigen Philosophie der Mensch auch bei Fehlverhalten bis zu einem gewissen Grad geschützt.
Ab wann sprechen wir von echtem LOTO und welche Maßnahmen fallen nicht unter diesem Begriff?
Dirk Heeren: Der LOTO-Norm folgend darf die Trennung der gefährlichen elektrischen oder fluidischen Energie ausschließlich ‚direkt‘ erfolgen, also nicht von Steuerungskomponenten abhängig sein. Somit kann LOTO per Definition nur korrekt umgesetzt werden, wenn ein direkt handbetätigter elektromechanischer allpoliger Schalter die elektrische Energie oder ein handbetätigtes, direkt wirkendes Ventil die fluidische Energie von der gefährlichen Wirkung (z.B. Motor, Zylinder oder anderen Bewegungsquellen) trennt. Diese Handbetätigungen müssen abschließbar sein (Lockout) und mit einem Hinweis (Tagout) versehen werden können.
Folgerichtig ist das Anbringen eines persönlichen Schlosses an einer Schutztür kein LOTO im eigentlichen Sinn, wenngleich dies eine sinnvolle Maßnahme zum Schutz gegen Wiederanlauf sein kann. Schutztüren sind typischerweise Stellungsüberwacht. Der ‚Türschalter‘ ist in die Steuerung integriert und erst die korrekt funktionierende Logik verhindert das Einschalten von Schützen oder Ventilen, die die gefährlichen Bewegungen verursachen.
Zum Abschluss noch eine Frage mit Blick in die Zukunft: Wird LOTO ihres Erachtens in Europa zukünftig noch eine größere Verbreitung erfahren oder werden umgekehrt technische Maßnahmen zur Sicherheit von Maschinen und Anlagen gerade in den USA mehr Bedeutung erlangen?
Dirk Heeren: Lockout / Tagout ist für die Lebensphasen ‚Wartung und Instandhaltung‘ eine sinnvolle Maßnahme. Für bestimmte Tätigkeiten, ausgeführt durch besonders geschultes Fachpersonal, typischerweise Instandhaltung, ist diese willensabhängige organisatorische Maßnahme sinnvoll einzusetzen und die Wirksamkeit durch seltenen bewussten Einsatz auch als hoch einzustufen.
Bei regelmäßigen und häufigen kurzen Tätigkeiten zur Maschinenbedienung wird der Aufwand und Zeitverlust durch diese Prozedur häufig als lästig empfunden. Demnach kann dieser nur durch hohen kontrollierenden Aufwand beziehungsweise mit entsprechendem Druck durch Konsequenzen (quasi als Zwang) durchgesetzt werden. Maßnahmen, deren Sinn nicht erkannt wird und die lästig erscheinen, sind die ersten, die umgangen werden, wo immer möglich. Daher ist LOTO, entgegen dem ursprünglichen Ziel, in vielen Fällen verantwortlich für Unfälle in den USA und Kanada. Hintergrund ist, dass moderne und komplexe Maschinen oft die Beibehaltung der Energiezuführung erfordern, um Einstellungen oder Fehlersuche zu ermöglichen. Sinnvoll eingesetzt, ist LOTO dennoch eine gute und wirksame Maßnahme. Ein Allheilmittel aber sicher nicht.
Auf der anderen Seite beobachten wir Bestrebungen für eine Revision der aktuellen LOTO-Norm mit dem Ziel, alternative steuerungstechnische Schutzmaßnahmen für ‚regelmäßige kurze Eingriffe, die während der Bedienung einer Maschine erforderlich sind‘, zuzulassen. Dies wird in einem Bericht der ASSP aus 2020 sogar mit dem Gewinn an Sicherheit begründet, da menschliches Fehlverhalten bei solchen ‚willensunabhängigen‘ Maßnahmen nicht mehr zum direkten Verlust der Sicherheit führt. Die Herausforderung jedoch ist die Konsequenz, dass eine Risikobeurteilung für die Konstruktion und Herstellung von Maschinen notwendig wird, wie es in Europa üblich ist. Hier kommt der oben beschriebene gesetzliche und kulturelle Unterschied maßgeblich zum Tragen.