Safety Trends 2022: ESG-Kriterien rücken Arbeitsschutz stärker in den Fokus
Markus Becker, CEO von Quentic, im Interview zum "Safety Management Trend Report 2022“
Der Softwareanbieter Quentic stellt seinen „Safety Management Trend Report 2022“ vor. Darin haben elf internationale Experten und Expertinnen sieben Trends im Arbeitsschutz unterschieden. Ein zweiter Teil beruht auf einer Umfrage unter Fach- und Führungskräften im Arbeitsschutz aus ganz Europa. Zu den neueren Entwicklungen seien unter anderem die soziale Verantwortung in der Lieferkette sowie psychische Belastungen zu zählen, sagt Quentic-CEO Markus Becker im Interview mit GIT SICHERHEIT.
GIT SICHERHEIT: Herr Becker Sie haben gerade Ihren „Safety Management Trend Report“ vorgestellt. Gab es aus Ihrer Sicht Überraschungen oder bemerkenswerte Veränderungen im Vergleich zu Ihren früher durchgeführten Untersuchungen?
Markus Becker: Eine deutliche Veränderung ergibt sich aus der Bewältigung der Pandemie. Sie hat im zweiten Jahr in Folge nicht nur den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, sondern auch das Thema der psychischen Belastungen gestärkt. Das mentale Wohlbefinden der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherzustellen, gute Unternehmenskultur zu schaffen und Stress sowie Arbeitsdruck zu reduzieren und auszugleichen, ist in Zukunft für die Unternehmen erfolgsentscheidend. Wichtig ist zunächst eine noch stärkere Sensibilisierung für das Thema sowie die Erweiterung der Kompetenzen bei den Verantwortlichen.
Lassen Sie uns ein paar dieser Trends herausgreifen – zunächst einmal die Digitalisierung: Generell wird ja eine Schubwirkung durch die Corona-Pandemie beobachtet – auch im Arbeitsschutz. Könnten Sie etwas näher erläutern, was dies aus Sicht der befragten Experten bedeutet?
Markus Becker: Durch die Pandemie ist der Aufwand für die Arbeitsschutzbeauftragten und ihre Teams gestiegen. Eigentlich waren kaum Unternehmen auf eine solche Situation vorbereitet. Neben die meist aufwendigen Hygienemaßnahmen gesellten sich Dokumentationspflichten. Selbst an der Pforte hat sich plötzlich vieles verändert. Sofern ein Unternehmen überhaupt noch Betriebsfremde eingelassen hat, mussten Tests erfasst oder später Impfausweise kontrolliert werden. Da ist ein digitalisiertes Fremdfirmen- und Besuchermanagement natürlich ein enormer Vorteil. Trotzdem ist hier ein Digitalisierungsurknall ausgeblieben, die Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist erstaunlich groß.
Ausbaufähig sei die Digitalisierung im Arbeitsschutz zum Beispiel bei den Gefährdungsbeurteilungen – aber auch beim Incident-Management ...
Markus Becker: Gerade die Gefährdungsbeurteilungen sind ein wichtiges Instrument im Arbeitsschutz. Die Erfassung von Risiken lässt sich sehr gut digitalisieren. Mit Mobilgeräten geht das sogar in einem Schritt: bei der Begehung können Gefährdungen nicht nur erkannt und erfasst, sondern gefährliche Situationen und Stellen auch sofort fotografiert und in die Bewertung mit eingebunden werden. Das schafft Genauigkeit und spart Zeit.
Ähnlich ist das im Bereich Incident-Management. Der Einsatz moderner, auch in diesem Falle mobiler Anwendungen, macht die Erfassung von Unfällen und anderen Vorkommnissen nicht nur schneller, sondern auch präziser. Die digitalen Aufzeichnungen der Beurteilungen und Vorkommnisse sind leicht durchsuchbar im Computer und lassen sich rasch für Audits zusammenstellen.
Doch der Arbeitsschutz kommt auch in anderer Hinsicht ins Spiel. Bei digitalen Arbeitsplätzen in Unternehmen sind viele Gefährdungen und Risiken nicht auf den ersten Blick sichtbar. Beispiele sind die ständige Erreichbarkeit und Distanz der Belegschaft durch mobile Arbeit und Telearbeit. Ganz unabhängig von Covid-19 ist der klare Blick auf psychische Belastungen eine sehr gute Entwicklung.
Ein weiteres, komplexes und übergreifendes Thema, nämlich Industrie 4.0, wird als Trend auch im Arbeitsschutz definiert. Wir denken hier etwa an Veränderungen in der Produktion und an kollaborative Roboter mit ihren spezifischen Gefährdungspotentialen. Könnten Sie einmal ein paar hervorstechende Beispiele nennen, die insbesondere für produzierende Unternehmen relevant sind hinsichtlich des Arbeitsschutzes?
Markus Becker: Die Gefährdungspotenziale in der Industrieproduktion haben sich in den letzten Jahren gewandelt, sind aber letztlich nicht weniger geworden. So verschwanden durch kollaborative Roboter (Cobots) einige der typischen Risiken klassischer Fertigungsroboter. Cobots sind so ausgesteuert, dass sie auf Hindernisse mit Anhalten oder Zurückweichen reagieren. Das betrifft auch die autonomen Flurförderzeuge in der Intralogistik. Sie sind in der Lage, Hindernisse entweder zu umfahren oder davor zu stoppen.
Fortgeschrittene KI-Verfahren und moderne Computer ermöglichen diese Fähigkeiten. Aber die Gefahren sind deshalb nicht verschwunden. Auch heute sind Nachlässigkeit und mangelnde Aufmerksamkeit eine häufige Ursache von Unfällen. Entscheidend sind Unterweisung und Schulung der Mitarbeiter.
Herr Becker, die Studie stellt – auch dies wird als Trend herausgestellt – einen Wandel der Arbeit rund um die HSE-Themen (Health, Safety, Environment) im Sinne eines integrierten Verantwortungsmanagements fest. Sie fügt sich in die Zielsetzungen einer Unternehmensführung nach den ESG-Kriterien ein (also Environment, Social und Government). Steckt darin auch eine Aufwertung des Arbeitsschutzes?
Markus Becker: Das neue Stichwort für den Arbeitsschutz ist das „Social“ in ESG, die soziale Verantwortung der Unternehmen. Das betrifft auch die Zulieferer. Ab 2023 müssen Unternehmen laut dem etwas sperrig benannten Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz darauf achten, dass ihre Zulieferer im Ausland den Schutz von Umwelt, Menschen- und Kinderrechten beachten – inklusive grundlegender Vorkehrungen für die Arbeitssicherheit. Das erweitert den Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes deutlich. Die Unternehmen sollten sich darauf vorbereiten, in Zukunft nicht nur die eigenen Mitarbeiter in eigenverantwortlichem und sicherheitsbewusstem Handeln zu schulen, sondern auch bei den Zulieferern darauf zu drängen und dabei unter Umständen vor Ort beim Lieferanten ihre eigene Expertise einzusetzen.
Wenn wir die ESG-Kriterien ins Spiel bringen, sprechen wir auch von den Finanzmärkten. Wird der Arbeitsschutz hier noch eine größere Rolle spielen?
Markus Becker: Sicher, denn alle Ratingagenturen beachten inzwischen den sozialen Aspekt ebenso penibel wie die Nachhaltigkeit. Damit bewerten sie das Verhalten der Unternehmen in einigen Bereichen, die in der klassischen Finanzanalyse nicht berücksichtigt werden.
Generell spielt die soziale Verantwortung der Unternehmen in der Außenwirkung eine ebenso große Rolle wie Nachhaltigkeit, CO2-Effizienz und Umweltschutz. Das sind Schlüsselfaktoren in Bezug auf den Unternehmenserfolg und auf die externe Wahrnehmung. Auch Sicherheit und Qualität der Arbeitsplätze zählen hier immer stärker dazu und so steigt auch die Bedeutung des Arbeitsschutzes. Wer hier schlechte Ratings bekommt, könnte in Zukunft Schwierigkeiten haben, bei Banken Kreditlinien zu erhalten oder institutionelle Investoren anzuziehen.
Die Studie beschäftigt sich auch mit der unternehmerischen Praxis. Könnten Sie einmal skizzieren was die Ergebnisse diesbezüglich sind?
Markus Becker: Viele Unternehmen sind sehr aktiv beim Arbeitsschutz. So haben vier von zehn Firmen ein innerbetriebliches Gesundheitsmanagement. Ebenso viele unterstützen beispielsweise die Mitgliedschaft in Sportvereinen oder Studios mit einer anteiligen Kostenübernahme. Etwas weniger verbreitet sind eigene Angebote, beispielsweise Fitnesskurse oder Massagen. Allerdings hat ein Viertel der Unternehmen gar keine Angebote. Hier ist also noch Luft nach oben.
Doch die Arbeitsschutzbeauftragten selbst wünschen sich etwas ganz anderes: Zwei von drei Fachkräften möchten lernen, wie sie Mitarbeitende mehr für Arbeits- und Gesundheitsschutz begeistern können.
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